Wie können die Eltern von transidentifizierten Teens & Twens besser unterstützt werden?
Um Erkenntnisse zu dieser Frage zu gewinnen, hat ein französisches AutorInnen-Team, zu dem auch Prof. Céline Masson gehört, Briefe von Eltern ausgewertet, in denen es um die Transidentifikation ihrer Kinder geht. Es wurden die Erfahrungen und Wahrnehmungen analysiert, die Eltern (vorwiegend Mütter) in ihren Briefen bzw. E-Mails niedergeschrieben haben und unaufgefordert an das Observatoire la Petite Sirène (OPS) geschickt haben.
Aus insgesamt 100 Briefen, die zwischen 2019 und 2021 eingegangen sind, wurden 60 ausgewählt, die die Erfahrungen und Sorgen bezüglich der Situation mit transidentifizierten Kindern im Alter von 12-24 Jahren (∅ 17 J.) ausreichend detailliert und kohärent schilderten.
„Our research and our public alerts brought in parents who wanted to ask questions and, above all, bear witness to what was happening to their child. The aim is to better understand the nature of their perceptions and initial reservations regarding their child’s disclosure of transgender identity."
Aufgrund der Ausrichtung des OPS handelt es sich nicht um eine repräsentative Elternschaft. Vielmehr haben die Eltern in ihren Briefen überwiegend ihre Bedenken oder Vorbehalte gegenüber den gender-affirmativen Institutionen und deren üblichen Vorgehensweisen zum Ausdruck gebracht, mit denen sie konfrontiert waren.
Es konnten Einblicke in die Spannungen, Unsicherheiten und sich entwickelnden Erkenntnisse, die die Familiendynamik charakterisieren, gewonnen werden.
„[An} interpretative lens allows us to move beyond a mere thematic description and instead explore how parents navigate conflicting emotions, social discourses, and their own evolving beliefs.“
Die Briefe waren anonymisiert und von den Eltern für die Verwendung in dieser Studie genehmigt worden.
Es wurden diverse Daten systematisch aus den Berichten extrahiert, von Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Familiensituation, über Unterstützungssuche, Expertenkonsultationen, Ursachenanalyse, Online-Aktivitäten bis zu Diagnosen, Komorbiditäten und begonnenen nichtmedizinischen und medizinischen Maßnahmen.
Für die Thematische Analyse wurden 9 Hauptkategorien identifiziert:
der Kontext, in dem der Wunsch nach einer Transition entsteht,
die Wortwahl bei der Offenlegung,
der Beginn des Wunsches nach einer Transgender-Identität,
Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Pubertät,
die sexuelle Orientierung des Jugendlichen,
der Einfluss digitaler und realer sozialer Netzwerke,
der Beratungsprozess zur Transidentität,
die Reaktionen der Eltern und schließlich
der psychische Zustand des Jugendlichen nach der Offenlegung.
Hintergrund der Transitions-AnkündigungHintergrund der Transitions-Ankündigung
Bei 63 % gab es in der Vorgeschichte psychische Probleme mit professioneller Beratung oder Hospitalisierung.
In 37 % der Fälle lagen bereits psychiatrische Diagnosen vor, hauptsächlich Depressionen (20 %), ASS (17 %), Essstörungen (13 %), Schulphobie (10 %).
72 % der Eltern machten sich Sorgen um psychische Probleme. Als Ereignisse, die mit der Offenbarung der neuen Identität ihres Kindes zusammenhängen könnten, wurden angegeben:
Trennung/Scheidung der Eltern (27 %)
Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen (13 %)
Mobbing in der Schule (12 %)
häusliche Gewalt (10 %)
Tod eines Angehörigen (8 %)
Eltern nahmen die plötzliche Transidentifikation ihres Kindes häufig als möglichen Ausdruck einer zugrunde liegenden psychischen Notlage wahr. Als Auslöser wurden Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Körperbild, der Identität, der Sexualität oder allgemeineren emotionalen Schwierigkeiten genannt, wie:
Pubertätsprobleme
Lockdown, Gefühl der Isolation
Zunahme der Nutzung sozialer Netzwerke
Beziehungsprobleme mit Peers
„They described their children as vulnerable individuals navigating adolescence, often facing emotional challenges, feelings of isolation, and shifts in self-image. This contextualization helped parents make sense of what they perceived as the sudden and unexpected nature of their child’s request."
Das „Coming-out“ hatte oft 3 Merkmale. Es war unerwartet, plötzlich und dringend in dem Wunsch nach Veränderung. Die Reaktion vieler Eltern war entsprechend: Überraschung, Schock und Erstaunen, insbesondere über die dringenden Forderungen nach einer sozialen oder medizinischen Transition.
Das Wording und der Rahmen der BekanntgabeDas Wording und der Rahmen der Bekanntgabe
Die Bekanntgabe der Transidentifizierung ging bei Eltern mit Emotionen einher, die von Unverständnis bis Ohnmacht reichten. Sie berichteten von der Herausforderung und Unsicherheit, gleichzeitig mit Bitten um Änderung von Namen und Pronomen konfrontiert zu sein, die als Veränderung in der Familiendynamik und der Beziehung gesehen wurden.
Häufig erfolgte das Coming-out nicht in einem persönlichen Gespräch, sondern schriftlich per Brief, E-Mail oder SMS, beeinflusst von Online-Skripts, manchmal angereichert durch Links. Einige Eltern fanden die Bekanntgabe wenig spontan oder authentisch, eher wie einstudiert und von externen Quellen beeinflusst.
Ab diesem Zeitpunkt wurde vieles schwieriger:
„They [the parents] described difficulties in maintaining open dialogue, as conversations often became tense, fragmented, or entirely avoided following the disclosure.“
Anschließend beschreiben viele Eltern die Kommunikation mit ihrem Kind als problematisch oder gestört. Fragen, Bedenkenäußerungen oder Zweifel wurden als „uninformiert“ oder „transphob“ abgewehrt.
„The disclosure of a transgender identity frequently challenges parent–child communication, resulting in perceived disconnects and concerns about the child’s mental health."
Eltern suchten in der Regel intensiv nach Ursachen, stellten oft die Zusammenhänge zu Pubertätsproblemen her, wie körperliche Veränderungen mit körperdysmorphen Störungen und Magersucht. Pubertätsängste wurden scheinbar durch externe Stressfaktoren wie Umzüge, Trennungen, Mobbing verstärkt. Einige Teens oder Twens entwickelten in dieser Zeit eine negative Selbstwahrnehmung und emotionale Unruhe, für die die neue Identifikation als Bewältigungsmechanismus wahrgenommen wurde.
Einige Jugendliche outeten sich zunächst als homosexuell, später auch als nicht-binär, bisexuell, pansexuell oder asexuell. Viele Eltern stellten kein aktives Sexualleben bei ihnen fest.
Eltern gingen häufig auf die Rolle von Online-Foren zu Transgender-Themen, Websites mit Selbstbewertungstools und den allgegenwärtigen Einfluss von Social-Media-Plattformen wie Instagram, TikTok und YouTube ein.
„In many cases, parents suggested that their child’s identification as transgender may have been influenced by interactions with online communities or peers sharing gender-affirming narratives.“
Erfahrungen mit BeratungseinrichtungenErfahrungen mit Beratungseinrichtungen
Nur ein Drittel der Eltern hat Erfahrungen mit Beratungseinrichtungen gemacht. Sie hatten oft den Eindruck, dass diese systematisch trans-affirmativ ausgerichtet waren. 55 % dieser Eltern waren nicht in die Beratungen einbezogen worden, 40 % nur einmal. 75 % dieser Eltern gab an, dass 1-2 Termine als ausreichend angesehen wurden, um eine Diagnose der Genderdysphorie zu stellen und medizinische Eingriffe zu genehmigen. 25 % beschrieben diese Termine als sehr kurz (unter 15 Minuten). 15 % erfuhren psychischen Druck, von dem sie den Eindruck hatten, dass er ihre Entscheidung bezüglich der Transitionsunterstüzung beeinflussen sollte. 45 % berichteten, dass sich die Beratungsgespräche hauptsächlich auf „praktischen Schritte der Transition konzentrierten, während die zugrunde liegenden Faktoren, die zur Notlage des Kindes beitrugen, kaum untersucht wurden."
„Parents expressed difficulties in finding mental health professionals who prioritized understanding the reasons behind their child’s desire to transition, rather than automatically supporting the transition process.“
Es zeigte sich, dass Eltern, die hinsichtlich der Unterstützung der Transition ihres Kindes zurückhaltend sind, oft mit tiefer Ambivalenz kämpfen, zwischen der Angst vor möglichen Transitionsfolgen und dem aufrichtigen Wunsch, es zu unterstützen.
„Parents frequently express anxiety about their child’s well-being, particularly concerning the possibility of regret after undergoing medical transition, and the long-term impacts on their child’s health, personal development, and future life choices. A common source of distress is the fear of not being able to provide adequate protection when their child is perceived as too young or vulnerable to make such life-altering decisions.“
Eltern fühlen sich häufig isoliert und hinsichtlich ihrer Überlegungen und Bedenken von den Fachleuten zu wenig verstanden und ernst genommen. Bei wichtigen Fragen löst dies Emotionen und Unsicherheiten aus. Sie fühlen sich nicht unterstützt und formulieren ihr Dilemma sinngemäß so: Wie kann ich mein Kind unterstützen, aber gleichzeitig die langfristige psychische und physische Gesundheit sichern?
Psychischer Zustand junger Menschen nach dem Coming-outPsychischer Zustand junger Menschen nach dem Coming-out
Psychischer Zustand junger Menschen nach dem Coming-out
Eltern beobachteten nach der Bekanntgabe des Transitionswunsches häufig die Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes ihres Kindes. Anzeichen einer erhöhten Notlage waren Verhaltensänderungen, verstärkte psychische Symptome (Aggressionen, Selbstverletzung), angespannte Familienbeziehungen und ein geringeres Engagement in schulischen Aktivitäten bis hin zu Schulverweigerung.
Einige Kinder zogen sich zurück, Gespräche über ihre Gefühle und Motivationen waren schwierig bis unmöglich, manche bevorzugten die schriftliche Kommunikation, manche äußerten Stimmungsschwankungen und Selbstmordgedanken, drohten mit Kontaktabbruch oder machten ihren Eltern Vorwürfe.
5 kritische Punkte
Die Analyse der Elternbriefe zeigt eine komplexe Gefühlswelt, die Eltern erleben, wenn ihr Kind eine Transidentifizierung verkündet. Aus den Elternbriefen konnen 5 kritische Punkte ermittelt werden:
Reaktion der Eltern auf TransidentitätReaktion der Eltern auf Transidentität
Wenn Kinder glauben, ihr Geschlecht ändern zu können, ändert sich die Familiendynamik, es kommt oft zu Spannungen.
„Parents frequently find themselves balancing the desire to provide unwavering support with concerns about the potential long-term implications of medical transitions.
Verfügbarkeit und Engagement der ElternVerfügbarkeit und Engagement der Eltern
Betroffene Eltern verhalten sich trotz der emotionalen Herausforderungen proaktiv, suchen nach Informationen, Ressourcen und Beratung, um mit der Situation zurechtzukommen.
Die Bedeutung des DialogsDie Bedeutung des Dialogs
Eltern erfahren hinsichtlich ihrer Gefühle, Anliegen und Fragen von den üblichen Beratungsstellen und auch von vielen Professionals kaum Verständnis und keine angemessenen Reaktionen.
Sorgen der Eltern um das psychische WohlbefindenSorgen der Eltern um das psychische Wohlbefinden
Die tiefe Sorge von Eltern um das psychische Wohl ihres Kindes nach dem Coming-out - speziell wenn es bereits bestehende psychische Erkrankungen gibt - sind keine Ablehnung.
„Clinical encounters that dismiss these concerns can exacerbate parental anxiety.“
Soziale Auswirkungen und KomorbiditätenSoziale Auswirkungen und Komorbiditäten
Was die Rolle externer Einflüsse von Medien oder Peers bei der Identitätsbildung junger Menschen angeht, besteht die
„need for careful, individualized assessments that consider the broader psychosocial context.“
Schlussfolgerungen
„Parents reported feelings of ambivalence, isolation, and concerns about the adequacy of clinical support, particularly regarding comprehensive psychological assessments. These insights underscore the need for more nuanced, supportive, and individualized clinical approaches that address both the young person’s and the family’s well-being."
Empfehlungen
Die AutorInnen der Studie empfehlen auf Basis ihrer Analyse und ihrer Experten-Erfahrung:
umfassende individuelle psychotherapeutische Unterstützung, die sowohl das psychische Wohlbefinden des jungen Menschen als auch das der Familie berücksichtigt.
psychotherapeutische Strategien, die der Erforschung und dem Verständnis Vorrang vor einer sofortigen Bestätigung einräumen.
Diese Empfehlungen dienen dazu, den Entwicklungsprozess des Teenagers oder jungen Erwachsenen zu unterstützen. Gleichzeitig wäre dies ein Schutz, die zugrundeliegenden psychologischen Bedürfnisse nicht zu übersehen und voreilige Entscheidungen zu vermeiden.
*)Anmerkung: Aus der Studie kann ausführlich zitiert werden, weil sie Open-Access (CC-BY) veröffentlicht wurde.
Familientherapie - mitgemeint aber nicht explizit genannt
Aufgrund ihrer Analyse empfehlen die Studien-AutorInnen, den Eltern mit ihrem transidentifizierten Teenager oder auch jungen Erwachsenen mehr Verständnis und umfassende Unterstützung zukommen zu lassen. Sehr viel konkreter werden sie nicht. Die Empfehlung umfasst sicherlich auch familientherapeutische Maßnahmen. An dieser Stelle halten wir es für sinnvoll, auf die Option der Familientherapie explizit einzugehen:
Die komplexe Situation nach einem Trans-Coming-out erfordert geradezu die unkomplizierte Bereitstellung von erreichbaren und qualitativ hochwertigen Möglichkeiten zur Familientherapie, die ergebnisoffen und neutral sind. Diese sollten aus unserer Sicht alternativ oder zusätzlich zum Einzeltherapie-Setting und/oder psychosozialen Maßnahmen möglich sein.
Die auftretenden Probleme in der Familie können relativ umfangreich werden, sie betreffen die Familiendynamik, die Beziehungen und die Erziehung, die gemeinsam zu klären sind. Um die häusliche Psychohygiene zu wahren, die Beziehung und die Kommunikation zu stabilisieren, können in einem familientherapeutischen Rahmen gemeinsam mit dem neutral eingestellten und vermittelnden Familientherapeuten Punkte geklärt werden wie
Nachdenken über Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Dialogs und der Beziehung
Suche nach einem Namen, der für alle akzeptabel ist
Umgang mit dem Internet, andere Erziehungsprobleme
Kommunikationsmethoden, -möglichkeiten mit dem Ziel, Ansichten, Wünsche und Anforderungen so zu kommunizieren, dass die Gespräche (auch zu Hause) nicht eskalieren.
Förderung des gegenseitigen Verständnisses (sowohl Teenager als auch Eltern wird zugestanden eigene Überzeugungen zu haben)
Ausräumen von Vorurteilen auf beiden Seiten ("Eltern sind transphob und uninformiert", "Teenager haben kein Interesse an Eltern/Familie oder an ihrer Zukunft")
Austausch über Gefühle, Realitäten, Bedenken, Utopien bzw. Fiktionen etc.
Der international renommierte amerikanische Psychiater Prof. Paul McHugh schrieb bereits vor einem Jahrzehnt:
„In fact, gender dysphoria – the official psychiatric term for feeling oneself to be of the opposite sex – belongs in the family of similarly disordered assumptions about the body, such as anorexia nervosa and body dysmorphic disorder. Its treatment should not be directed at the body as with surgery and hormones any more than one treats obesity-fearing anorexic patients with liposuction. … The treatment should strive to correct the false, problematic nature of the assumption and to resolve the psychological conflicts provoking it. With youngsters, this is best done in family therapy.” Transgender Surgery is not the Solution, WSJ, 2016
Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie
Stella O'Malley reflektiert darüber, wie schwer es für TherapeutInnen im derzeitigen gesellschaftlichen Klima ist, eine ethisch verantwortliche Therapie zu betreiben, wenn das Thema Transidentifikation auftaucht.
Im Idealfall können Therapeuten helfen, eine Krise in neue Erkenntnisse zu transformieren.
Auch beim Thema ROGD sollten Psychotherapeuten helfen, die Fragen klären: „Was ist los? Was ist wirklich los?“ Sonst wird es schwierig, Menschen in ethischer Weise weiterzuhelfen. Stella O'Malley zitiert in ihrem Beitrag auch Thomas Sowell:
„When you want to help people, you tell them the truth. When you want to help yourself, you tell them what they want to hear."
O'Malley formuliert den Sinn und Zweck von Psychotherapie so:
„We clinicians need to be able to speak clearly about suffering and mental illness in the right way and at the right time. If we are to provide meaningful therapeutic care we need to be able to speak about the elephant in the room. That is our job.“
„Bestätigungs"therapeuten gibt es nach unserer Einschätzung genug. Dringend benötigt werden empathische TherapeutInnen mit der Fähigkeit, dieses Gefühl zu kommunizieren, und die in der Lage sind, eine (wie es Stella O'Malley formuliert) „sichere, ethische und effektive Praxis" anzubieten.
Wenn das eigene Kind plötzlich sagt, es sei trans*, ist vieles anders
Bei pittparents dürfen Eltern sich frei über ihre Situation und ihre Gefühle äußern. Zum Abschluss dieses Beitrags hier der „Brief" einer Mutter, die ihren Sohn, der seit der Pubertät eine Tochter werden möchte, unendlich vermisst. Sie schildert die verschiedenen Szenarien, die die Transidentität ihres Kindes bestätigen und aufrechterhalten.