Offener Brief zur geplanten S2k-Leitlinie GI/GD an das BMG

Vor mehr als 7 Jahren wurde mit der Erstellung einer neuen Leitlinie begonnen. Sie soll Experten-Wissen bereitstellen zum Umgang mit Minderjährigen, die Probleme mit ihrem Geschlecht/Gender haben. Ziel waren ursprünglich Empfehlungen in der höchsten AWMF-Kategorie S3 für MedizinerInnen, Gesundheitsfachleute und Betroffene. Seit März 2024 liegt ein LL-Entwurf auf S2k-Niveau vor (AWMF-RNr. 028-01), der vor allem von Fachleuten außerhalb der Leitlinien-Kommission, aber selbst von 2 der beteiligten Fachgesellschaften heftig kritisiert wird.

Wir Eltern von TTSB und ParentsofROGDKids (deutschsprachig) haben jetzt unsere Bedenken und Befürchtungen an den Gesundheitsminister (BMG) geschickt, nachdem bereits Briefe an die beteiligen Fachgesellschaften und die Bundesärztekammer vorangegangen waren.

Wir haben Zweifel, ob eine „Selbstkorrektur" der sog. Gender-Medizin im Rahmen der „Selbstverwaltung im Gesundheitswesen" in Deutschland möglich ist oder ob zum Schutz von Minderjährigen und jungen Erwachsenen nicht doch Leitplanken erforderlich sind.

An den
Bundesminister für Gesundheit - BMG
Herrn Prof. Dr. Karl Lauterbach
11055 Berlin

Betr.: S2k-Leitlinie AWMF-RNr. 028-014

Sehr geehrter Herr Minister Lauterbach,

wir sind Eltern1 von Kindern, die plötzlich in der Pubertät2 oder im jungen Erwachsenenalter ohne frühkindliche Vorgeschichte ihr Gender/Geschlecht infrage stellen, gender-inkongruent sind und/oder sich aufgrund entsprechenden Leidensdrucks (= Genderdysphorie (GD)) in der sozialen, rechtlichen oder medizinischen Transition befinden. Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit gegenüber der aktuellen Debatte um die beste Gesundheitsversorgung für diese Heranwachsenden.

Genderdysphorie (GD) ist eine schwere psychische Notlage, die wir sehr ernst nehmen. Sie zwingt uns in der Regel, professionelle Hilfe im Gesundheitswesen zu suchen. Wir sind aber besorgt, dass die in vieler Hinsicht problematische neue S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung (LL) die Gesundheit unsere Kinder gefährdet. Die dort empfohlene gender-affirmative Herangehensweise bestätigt die Selbstidentifikation von Heranwachsenden und zieht eine medizinische Behandlung nach sich, die auf irreversible Körpermodifikationen und lebenslange Medikalisierung hinausläuft. Für diese stark medizinisch geprägte Vorgehensweise fehlt die nötige wissenschaftliche Evidenz.

Uns, unseren Teenagern, aber auch Fachleuten wird mit dieser Leitlinie suggeriert, dass für die Notlage der Genderdysphorie vor allem die medizinische Transition die Lösung ist. Ihnen wird empfohlen, den als „falsch empfundenen“ Körper schon früh körpermedizinisch „behandeln“ zu lassen. Die (Patienten-)Sicherheit unserer ROGD2-Heranwachsenden ist gefährdet, weil der S2k-Leitlinienentwurf keine ganzheitliche Beurteilung in den Focus stellt. Meist überschattet das Gender-Thema Begleiterkrankungen, die schon zuvor vorhanden waren. Für den Nutzen einer frühen medizinischen Transition (ggf. Pubertätsblocker, gegengeschlechtliche Hormone, später oft auch chirurgische Eingriffe) fehlen hinreichende Erkenntnisse über die langfristigen Folgen und Wirkungen, sie wird noch immer experimentell und mit Off-Label-Medikamenten durchgeführt.

Wir haben unsere Bedenken zum S2k-Leitlinienentwurf gegenüber den Beteiligten (CC AWMF) bereits ausführlich dargelegt und begründet:

  • In einem Brief an die an der Leitlinie beteiligten Fachgesellschaften (12.04.2024)3
  • In einem Brief an die Ombudsstelle der federführenden Fachgesellschaft DGKJP (21.05.2024)4

Die Rückmeldung der DGKJP vom 13.06.2024 entkräftet jedoch weder unsere Bedenken noch beantwortet sie unsere Fragen. Die DGKJP sieht keine Notwendigkeit, den Leitlinien-Entwurf grundlegend zu überarbeiten oder zurückzuziehen. Wir sind der Überzeugung, dass der S2k-Leitlinienentwurf das von der AWMF definierte Ziel verfehlt:

„Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung von Ärzt*innen sowie Angehörige von weiteren Gesundheitsberufen und Patient*innen/Bürger*innen für eine angemessene Versorgung bei spezifischen Gesundheitsproblemen zu unterstützen. Sie sollten auf einer systematischen Sichtung und Bewertung der Evidenz und einer Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen basieren.” (Fettmarkierung hinzugefügt)

Der Leitlinienentwurf mit dem Stand vom 20.03.2024 ist weder für Fachleute noch für Betroffene und deren Eltern hilfreich, sondern verwirrend und untauglich:

1. Die S2k-Leitlinie ist auf dem Stand der Wissenschaft des letzten Jahrzehnts

Die LL-Kommission hat die systematische Literaturrecherche zur Prüfung der Evidenz bereits zwischen 2017 und 2020 aus Gründen des „Aufwands" eingestellt. Auf Basis einer „pragmatischen Vorgehensweise" hat sie unsystematisch einzelne Veröffentlichungen, z. B. der WPATH SoC Vers. 85 berücksichtigt. Die Methodenkritik6 der Society for Evidence Based Gender Medicine (SEGM) dazu ist treffend:

„The guideline development team abandoned the systematic evidence search after 2019, stating it was no longer 'feasible with the Commission's resources.' The decision to stop systematically searching for the evidence during the last four years (2020–2023) resulted in a failure to systematically appraise 50 % or more of the relevant evidence.

Laut britischem Cass-Review vom April, sind mindestens 50 % der international relevanten Studien nach 2020 erschienen. Diese wurden also für die deutsche LL nicht berücksichtigt. Daher ist davon auszugehen, dass der LL-Entwurf nicht auf einem gegenwärtig aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand basiert.
So ist z. B. die zum ersten Mal in einer LL enthaltene Empfehlung der Pubertätsblockade bei GD/GI mit dem Hinweis versehen, dass sie „im Hinblick auf ihre somatischen Wirkeffekte als vollständig reversibel” gelte. Das zeigt, dass die S2k-Leitlinie relevante nach 2020 erschienenen Reviews7 und Studien8 nicht berücksichtigt.

2. Der S2k-Leitlinienentwurf erfüllt nicht die Grundvoraussetzungen einer glaubwürdigen, vertrauenswürdigen evidenzbasierten Leitlinie

Zu diesem Schluss kommt beispielsweise die SEGM in ihrer detaillierten Analyse6 des S2k-Leitlinienentwurfs einschließlich des entsprechenden Leitlinienreports. Neben der Einstellung der systematischen Evidenzrecherche (s. Punkt 1), stellte die SEGM weitere methodische Mängel fest:

  • Aufgrund der fehlenden systematischen Recherche und Bewertung der relevanten Studien, gab es keine nachvollziehbare Verknüpfung zwischen den jeweiligen Empfehlungen und einer nach dem Grad der Sicherheit bewerteten Evidenzbasis. Stattdessen wurden die Empfehlungen mit den Ergebnissen einzelner Studien begründet, die ohne Prüfung des Verzerrungsrisikos als vertrauenswürdig präsentiert wurden.
  • Alle 72 Empfehlungen sind lediglich konsensbasiert, d. h. innerhalb der Kommission abgestimmt. Bei keiner wurde der Grad der Evidenz bewertet (z. B. nach GRADE). Einer Leitlinie auf S3-Niveau fehlten essentielle methodische Voraussetzungen. Die LL-Kommission behauptet, evidenzbasierte Empfehlungen seien aufgrund der geringen Qualität der Evidenz nicht möglich. SEGM verweist darauf, dass diese Behauptung falsch ist, denn evidenzbasierte Empfehlungen sind immer möglich, selbst im Kontext extrem begrenzter und qualitativ schlechter Evidenz. Die wichtigste Voraussetzung für qualitativ hochwertige evidenzbasierte Leitlinien ist nicht, dass sie auf qualitativ hochwertiger Evidenz basieren, sondern dass die best verfügbare Evidenz geprüft und bewertet wurde. Dies wird erreicht, indem eine systematische Suche durchgeführt, die Evidenz auf ihre Qualität hin bewertet und die Empfehlungen auf die Evidenz gestützt werden, wobei der Grad der Evidenz bei jeder spezifischen Empfehlung angegeben wird.
This is achieved by conducting a systematic search, appraising the evidence for quality, and by basing the recommendations on the evidence while assigning an appropriate level of 'strength' to each specific recommendation. This methodologically rigorous process was not followed in the case of the update to the German child and adolescent gender dysphoria guidelines.
  • Die bemerkenswerte Divergenz der Empfehlungen im S2k-Leitlinienentwurf und dem englischen Cass-Review hat international für Aufsehen gesorgt. Laut SEGM lässt sie sich größtenteils mit dem Versäumnis einer systematischen Bewertung der Evidenz erklären.
The Cass Report recommended withdrawing puberty blockers from commissioned treatments for youth gender dysphoria, advised extreme caution regarding cross-sex hormone use, did not consider surgery as a possible option for minors, and asserted that most gender dysphoric youth should be treated psychothera­peutically. In contrast, Germany's draft recommendations relaxed the prior age and eligibility requirements for minors wishing to access body-modifying endocrine and surgical interventions, and asserted that the requirement that minors undergo psychotherapy prior to accessing body-modifying procedures is ‘not ethically justified for reasons of respect for the dignity and self-determination of the person.’"

Hilary Cass sagte in einem BMJ-Interview9:

„I can’t think of another area of paediatric care where we give young people a potentially irreversible treatment and have no idea what happens to them in adulthood.“

3. Wir Eltern finden völlig unverständlich, dass

… die LL-Kommission kein unabhängiges Institut zur Evidenzprüfung und -bewertung eingeschaltet hat, um eine hochwertige Leitlinie in der Kategorie S3 zu erarbeiten, sondern stattdessen ausschließlich konsensbasierte Empfehlungen liefert. Evidenzrecherchen bzw. -berichte10 gehören beispielsweise zu den Kernaufgaben des IQWIG, welches über die AWMF bzw. das BMG beauftragt werden kann.

… die Leitlinienkommission den umfangreichen Cass-Review mit seinen aktuellen systematischen Reviews der Universität York zwar zur Kenntnis nimmt, aber keine Konsequenzen daraus zieht.

… sich im Leitlinien-Entwurf keine "Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen” findet. Eine abwartende Haltung oder Vorsicht gegenüber frühen medizinischen Eingriffen wie Pubertätsblockern, wird mit dem „Anrichten von Schaden” in Verbindung gebracht und als unethisch bezeichnet (S. 150), während die gender-affirmative Behandlung wie ein Non plus ultra erscheint. Wie kann es sein, dass Psychotherapie im S2k-LL-Entwurf die Funktion einer Begleit-Behandlung zukommt, Psychotherapie als primäre Intervention bei GD jedoch als „nach aktueller Erkenntnis wirkungslos“ bezeichnet wird (Fußnote auf S. 109). Eine Quelle oder Begründung für diese Behauptung wird nicht angegeben.
In immer mehr europäischen Ländern wird mittlerweile Psychotherapie und psychosozialer Betreuung wieder Vorrang vor einer medizinischen Behandlung eingeräumt, insbesondere bei Minderjährigen, die ohne entsprechende Vorzeichen in der Pubertät eine Genderdysphorie entwickeln.

… dass im Leitlinienentwurf stets von „Indikationen” für medizinische Maßnahmen gesprochen wird, obwohl Genderinkongruenz/-dysphorie nicht mehr als Krankheit und nicht als „psychische Störung" definiert ist. Wir fragen uns auch, auf welcher Grundlage diese „Indikationen“ bei der bekannt schwachen Forschungslage erfolgen sollen. Zudem steuern die meisten Empfehlungen trotz der Betonung von „Entpathologisierung" letztlich auf einschneidende invasive medizinische Maßnahmen zu, die unsere Kinder lebenslang pathologisieren und von MedizinerInnen und Medikamenten abhängig machen.

… dass solche Indikationsstellungen für körpermodifizierende medizinische Interventionen in der Liste der Konsensusempfehlungen den weit größten Umfang einnehmen (Pubertätsblocker - PB (Konsensusempfehlungen VII.K1ff.), Cross-Sex-Hormone - CSH (Konsensusempfehlungen VII.K13ff.) und Brust-OPs (Konsensusempfehlungen VII.K23ff.)?
Die Argumentation der DGKJP, dass der S2k-Leitlinienentwurf „weder einen einseitig affirmativen Ansatz verfolgt noch diesem wiederspricht“ erscheint insgesamt unglaubwürdig.

4. Weitere problematische Aspekte des S2k-Leitlinienentwurfs

  • Für uns Eltern, aber auch für einige Fachleute11, ist nicht nachvollziehbar, warum bei BIID/BDD/BID intensive Psychotherapie die Behandlung der Wahl ist. Auch Essstörungen werden ganz anders behandelt als GD, obwohl es viele Analogien gibt.12
  • England und etliche skandinavischen Länder wenden sich von den Empfehlungen der WPATH ab, sind vorsichtig geworden und empfehlen - im Gegensatz zur früheren Praxis - psychosoziale und psychiatrische Unterstützung sowie Psychotherapie als Primärbehandlung
  • aus Gründen der unzureichenden Evidenzlage, insbesondere wegen fehlender Langzeitstudien
  • weil Diagnosen wie „Gender-Dysphorie" oder „Gender-Inkongruenz“ keinen prädiktiven Wert haben. Ein junger Mensch kann unabhängig vom Alter zu einem Zeitpunkt alle Diagnosekriterien für GD oder GI erfüllen. Aber es gibt kein zuverlässiges Kriterium, ob dies in den kommenden Monaten oder Jahren so bleibt. Daraus ergibt sich das Risiko einer Überdiagnose bzw. einer unnötigen Behandlung.
  • vor dem Hintergrund des ungeklärten steilen Anstiegs Betroffener vor allem in den vergangenen 10 Jahren, insbesondere ♀ Teenager mit plötzlich einsetzender Genderdysphorie. Eine aktuelle Erhebung von Versichertendaten bestätigt den Anstieg der F64.x-Diagnosen für Deutschland13. (Im Rückmeldebrief an TTSB relativiert die DGKJP dieses Phänomen in Richtung „im Vergleich zu vielen anderen Phänomenen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie äußerst kleine – Gruppe“.)
  • Die Statistik13 zeigt auch, dass 5 Jahre später nicht einmal mehr die Hälfte der Kohorte die GD-Diagnose erhält. Lohnend erscheint daher, Komorbiditäten (wie Ängste und Depressionen) zu behandeln, die Teenager zu beruhigen, das Selbstbewusstsein stärken, ihnen zu vermitteln, dass ihre aktuellen Wünsche nicht denen im späteren Leben entsprechen müssen (i.S. „Das Recht des Kindes auf eine Offene Zukunft”14) und zu versichern, dass die Pubertät vorübergehen wird.
„In der Längsschnittkohorte (n = 7 885, 47,1 % 20- bis 24-jährig, 37,7 % männlich) wiesen nach 5 Jahren insgesamt nur noch 36,4 % eine gesicherte F64-Diagnose auf, eine Diagnosepersistenz < 50 % zeigte sich in allen Altersgruppen (27,3 % [15- bis 19-jährige Frauen] bis 49,7 % [20- bis 24-jährige Männer])."

Nach einer aktuellen niederländischen Studie war die Gender-Unzufriedenheit im 11. Lebensjahr am höchsten und nahm bis zum jungen Erwachsenenalter ab (Rawee)15. Lediglich bei 2 % der Stichprobe nahm sie zu. Das lässt die Notwendigkeit einer frühen Medikalisierung fragwürdig erscheinen.

  • Zu den Interessenkonflikten der Kommissions-Mitglieder fehlt noch immer eine Veröffentlichung.

5. Der S2k-Leitlinienentwurf wird vielfach und auch international kritisiert

Es sind begründete Zweifel aufgekommen, dass die LL-Kommission repräsentativ zusammengesetzt ist, da der S2k-LL-Entwurf methodisch und inhaltlich mittlerweile von diversen Institutionen, Gruppen und Experten stark kritisiert wird, darunter sogar Fachgesellschaften, die mandatierte Mitglieder in der LL-Kommission hatten:

  • Zu vielen inhaltlichen und formalen Aspekten hat bereits eine größere Gruppe von Professoren für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ca. die Hälfte der Professuren dieses Faches mit eigenem Lehrstuhl in Deutschland repräsentieren, ihre profunde Kritik geäußert und die dringende Überarbeitung bzw. die Rücknahme der Leitlinie gefordert.16
  • Kürzlich erinnerte auch die European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP) an das Prinzip „primum-nilnocere“ – sie hat dazu wichtige Impulse veröffentlicht. Fazit: Im Sinne klinischer, wissenschaftlicher und ethischer Standards müsse unbedingt auf experimentelle und unnötig invasive Behandlungen bei genderdysphorischen Minderjährigen verzichtet werden.17
  • Die Society for Evidence-Based Gender Medicine (SEGM) kommt aufgrund ihrer detaillierten Analyse zu dem Schluss, dass die S2k-Leitlinie die Grundvoraussetzung einer zuverlässigen, vertrauenswürdigen, evidenzbasierten Leitlinie nicht erfüllt.6
  • Der Deutsche Ärztetag hat am 10.05.2024 einen Leitantrag verabschiedet, in dem vor dem Hintergrund der bestehenden Evidenzlage die medizinische Transition „nicht nur vom Willen eines sich in der Entwicklung befindenden Kindes bzw. Jugendlichen abhängig gemacht werden“ darf.18
  • David Bell, Ex-Tavistock-Governor, äußerte bereits im September 2023 deutliches Unverständnis über den „deutschen Weg“19:
„Da ich viele Kontakte zu deutschen Kolleginnen und Kollegen habe, bin ich erschüttert darüber, dass die Dinge in Deutschland so weit zurückliegen.”
  • Die Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DGPPN fordert20
    • hormonelle und chirurgische Interventionen müssten nach verpflichtender „multiprofessioneller kinder- und jugendpsychiatrischer und somatischer Diagnostik wenigen Fällen vorbehalten sein”,
    • ein Ethikvotum sei erforderlich sowie die Einbindung in klinische Studien.
    • Außerdem wurde die systematische Aufarbeitung der Fachliteratur seit 2020
  • Auch die Schweizer Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psycho­therapie SGKJPP schließt sich der ESCAP-Stellungnahme an und spricht sich für eine Überarbeitung des S2k-LL-Entwurfs aus.21

6. Der S2k-Leitlinienentwurf sorgt eher für Verwirrung als dass er Informationen zum „aktuellen Stand der Wissenschaft“ liefert

Mit einer Leitlinie, die teils drastische medizinische Maßnahmen auf Basis einer unzureichend geprüften und bewerteten Evidenz empfiehlt, ist niemanden gedient - am wenigsten den Betroffenen selbst, nicht deren Eltern, aber auch nicht den Fachleuten/Behandlern.

Fachleute sind alleine aus Haftungsgründen22 dazu verpflichtet, sich entsprechend des „Erkenntnistandes der medizinischen Wissenschaft“ fortzubilden und danach zu behandeln, ob es nun eine allgemein anerkannte und aktuelle Leitlinie gibt oder nicht. Für Betroffene, die sich in einer Ausnahmesituation befinden, und Eltern ist eine wissenschaftlich so veraltete und teilweise ideologisch gefärbte (zudem sehr lange und unübersichtliche) Leitlinie, die hoch umstritten ist, eine Zumutung. Sie müssten sich als Laien den aktuellen Stand der Wissenschaft mühsam aus anderen Quellen zusammensuchen. Das können die wenigsten leisten.

7. Es wäre vernünftig, die Veröffentlichung der S2k-Leitlinie zu stoppen

Wir finden es unethisch, die schlechte Qualität der Evidenz anzuerkennen, dann aber dennoch  - ohne Nutzen und Schaden ausreichend darzulegen  - einseitig starke Empfehlungen für die medizinische Transition von Minderjährigen auszusprechen, wie es diese Leitlinie tut.

Autonomie und Selbstbestimmung haben ihre Grenzen, wenn um Minderjährige in einer psychischen Ausnahmesituation um eine erhebliche (Selbst-)gefährdung ihres Körpers und die damit verbundenen gravierenden Einschränkungen in der Zukunft geht (Infertilität, Anorgasmie etc.).

Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen sollte unserer Auffassung nach reguliert werden, wenn eine Behandlung praktiziert und empfohlen wird, die nicht auf Wissenschaft beruht, deren Nutzen nicht erwiesen ist, die potentiell jedoch schaden kann. Es ist anzunehmen, dass die Zahl der Betroffenen, aber auch die Zahl derjenigen weiter steigt, die diese Behandlung später bedauern. Dann wird der Ruf nach gesetzlichen Regelungen zum Schutz von Minderjährigen und jungen Erwachsenen sicherlich lauter werden und Sie werden als Gesundheitsminister vermutlich handeln müssen.

Es gibt aktuell viele gute Gründe innezuhalten, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse (z. B. Cass-Review, Beyond NICE7) zu studieren, zu bewerten und einzuordnen und auf dieser Basis für Heranwachsende in Deutschland eine angemessene gender-medizinische Versorgung zu entwickeln.

Mit freundlichen Grüßen

gez. David Allison

Interessengemeinschaft Transteens-Sorge-berechtigt

ParentsofROGDKids deutschsprachig

        

Referenzen

1 Interessengemeinschaft Transteens Sorge berechtigt – Über unsEltern fragen & ParentsofROGDKids deutschsprachig

2 ROGD – Rapid Onset Gender Dysphoria s. transteens-sorge-berechtigt.net/rogd.html

3 Brief von TTSB an die Fachgesellschaften der S2k-LL GI/GD für KiJu sowie an die AWMF, 12.04.2024
„Lebenslange Eingriffe“ – Eltern verlangen Stopp von Behandlungsleitlinie für Trans-Kinder“, Welt, 15.04.2024

4 Brief an die Ombudsstelle der DGKJP, 21.05.2024

5 Zur Referenzierung von WPATH-Empfehlungen durch die S2k-LL-Kommission s. TTSB-Brief an die Fachgesellschaften v. 12.04.2024. Am 25.06.2024 wurde zudem die politische Einflussnahme auf die SoC8 bekannt, die zur Entfernung der Mindestaltersgrenzen für Minderjährige kurz vor Veröffentlichung der Empfehlungen im September 2022 führten: NYtimes

6 The German Guidelines for Diagnosis and Treatment of Gender Incongruence and Gender Dysphoria of Childhood and Adolescence, SEGM, 20.05.2024

7 Evidence review: Gonadotrophin releasing hormone analogues for children and adolescents with gender dysphoria, NICE 2020a;
Beyond NICE: Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade u. Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie, F. Zepf u. a., 27.02.2024

8 Puberty Blocker and Aging Impact on Testicular Cell States and Function, Murugesh u. a., 27.03.2024

9 'Medication is binary, but gender expressions are often not' — Hilary Cass interview, BMJ, 09.04.2024

10 IQWIG - https://www.iqwig.de/presse/im-fokus/evidenzrecherchen

11 Medical body modification in youth with gender dysphoria or body dysmorphic disorder – is current practice coherent and evidencebased? G. Kohls, V. Roessner, 06.11.2022

12 ‚Es gibt evidente Analogien von Geschlechtsdysphorie und Anorexia nervosa‘, in beiden Fällen handelt es sich „um körperdysphorische Störungen mit direktem Bezug zur Sexualität”, beide können „als maladaptive Lösungsstrategien zur Bewältigung eines subjektiven Überforderungserlebens während der Adoleszenz verstanden werden“, die bei weiblichen Jugendlichen deutlich häufiger vorkommt. Wahlverwandtschaften? Trans-Identifizierung und Anorexia nervosa als maladaptive Lösungsversuche für Entwicklungskonflikte in der weiblichen Adoleszenz, G. Gille, u. a., 2023

13 Störungen der Geschlechtsidentität bei jungen Menschen in Deutschland: Häufigkeit und Trends 2013-22, eine Analyse bundesweiter Routinedaten, Dt. Ärzteblatt, C. Bachmann u. a., 31.05.2024

14 Puberty Suppression for Pediatric Gender Dysphoria and the Child’s Right to an Open Future, Jorgensen, Athéa, Masson, 02.04.2024

15 Development of Gender Non‑Contentedness During Adolescence and Early Adulthood, Rawee u. a., 20.01.2024

16 Gemeinsame Kommentierung des Entwurfs der neuen S2k-Leitlinie "Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter" v. 21.05.2024;
Behandlungsleitlinie für „Trans“-Kinder – Jugendpsychiater schlagen Alarm, WELT, 25.04.2024

17 ESCAP statement on the care for children and adolescents with gender dysphoria: an urgent need for safeguarding clinical, scientific, and ethical standard, 27.04.2024

18 Behandlung einer Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen, angenommener Antrag des Dt. Ärztetag, 10.05.2024

19 Dr. David Bell über die Gefahren der sozialen Transition, YT, 23.09.2023

20 Brief von DGPPN-Präsident Prof. Dr. an Meyer-Lindenberg an Prof. Dr. Georg Romer, 05.06.2024

21 Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: https://www.sgkjpp.ch/

22 Haftungsrechtliche Bedeutung von Leitlinien, K. Ulsenheimer, 2006


Hier die Antwort vom BMG-Bürgerservice

Wir bekamen den Hinweis, dass wir uns mit unserer Kritik am S2k-Leitlinienentwurf an die AWMF wenden sollten. Der Bürgerservice hat offensichtlich überlesen, dass der TTSB-Brief, der an die Fachgesellschaften gerichtet war, auch in CC an die AWMF ging.

Statt auf unsere methodische und inhaltliche Kritik einzugehen, wurden 2 Absätze aus dem AWMF-Regelwerk zitiert. Leider wurde beispielsweise das dort erwähnte „Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation“ (GRADE) zur Erstellung des LL-Entwurfs nicht bzw. nicht korrekt verwendet (vgl. The German Guidelines for Diagnosis and Treatment of Gender Incongruence and Gender Dysphoria of Childhood and Adolescence, SEGM, 20.05.2024).

Der Bürgerservice legte zudem die „neue Möglichkeit" der Nutzung des IQWIG für Evidenzrecherchen zur Unterstützung der Leitlinien-Entwicklung in einem Gesetz von 2019 dar. TTSB hatte im Brief an das BMG allerdings bereits darauf hingewiesen, dass diese Option von der Leitlinien-Kommission unverständlicherweise nicht genutzt wurde.

Antwort des BMG-Bürgerservice zum Offenen Brief von TSSB, 27.07.2024


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