Die S2k-Leitlinie ist nicht vertrauenswürdig

Trotz derselben Studienlage kommt die S2k-Leitlinie zu ganz anderen Empfehlungen als der Cass-Review-Abschlussbericht. Das erregt mittlerweile international Aufsehen. Die Society for Evidence Based Gender Medicine (SEGM) kommt außerdem aufgrund ihrer detaillierten Analyse zu dem Schluss, dass die S2k-Leitlinie die Grundvoraussetzung einer zuverlässigen, vertrauenswürdigen, evidenzbasierten Leitlinie nicht erfüllt.

The German Guidelines for Diagnosis and Treatment of Gender Incongruence and Gender Dysphoria of Childhood and Adolescence, SEGM, 20.05.2024

Der Entwurf der S2k-Leitlinie für D-A-CH macht Schlagzeilen, weil sich die Empfehlungen deutlich von denen des fast gleichzeitig erschienenen Cass-Reports zum selben Thema unterscheiden.

Die SEGM-Analyse enthält 3 detaillierte Vergleichs-Tabellen: für die Soziale Transition, für Pubertätsblocker und für Cross-Sex-Hormone. Hier nur eine ganz grobe Übersicht:

S2k-LL

  • Die Alters- und Zulassungsvoraussetzungen für Minderjährige, die körperverändernde endokrine und chirurgische Eingriffe in Anspruch nehmen wollen, wurden gelockert.
  • Es wurde festgestellt, dass die frühere Anforderung für Minderjährige sich vor dem Zugang zu körperverändernden Verfahren einer Psychotherapie zu unterziehen „aus Gründen der Achtung der Würde und der Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt ist." 

Cass-Review

  • Der Cass-Bericht warnte vor einer sozialen Transition bei vorpubertären Kindern und empfiehlt Vorsicht bei älteren Jugendlichen
  • Pubertätsblocker als Behandlungen für jugendliche Genderdysphorie sind nur noch im Rahmen von Forschungs­pro­jekten möglich
  • Es wird zu äußerster Vorsicht bei der der Verwendung von Cross-Sex-Hormonen (frühestens ab 16 Jahren) gemahnt.
  • Operationen sind keine Option für Minderjährige
  • Genderdysphorische Jugendliche sollten psychotherapeutisch behandelt werden.

Methodische Schwächen der S2k-Leitlinie

Die Evidenz spielt in den beiden Projekten eine völlig unterschiedliche Rolle.

Während Cass davon ausgeht, dass der beste Behandlungsansatz für Jugendliche mit Genderdysphorie nicht bekannt ist und deshalb etliche systematische Reviews zur Evidenz beauftragte, orientierte sich die S2k-Leitlinienkommission an der Entpathologisierung durch die Neueinstufung der ICD-Diagnose "Gender-Inkongruenz". Sie überhöht die „Entpathologisierung”, leitet alleine daraus einen „Paradigmenwechsel” ab und empfiehlt (ohne Evidenzbezug), dass körperverändernde Maßnahmen allen, auch Minderjährigen, mehr oder weniger nach Wunsch verfügbar sein sollen.

Obwohl die Leitlinie für D-A-CH 7 Jahre lang mit der qualitativ höchsten Kategorie S3 gelabelt war, hatte die Recherche und Bewertung der Evidenz keine hohe Priorität. Erst ein Treffen mit der AWMF Anfang 2024 führte zu einem „Downgrading" auf S2k.

„The guideline development team abandoned the systematic evidence search after 2019, stating it was no longer "feasible with the Commission's resources." The decision to stop systematically searching for the evidence during the last four years (2020–2023) resulted in a failure to systematically appraise 50% or more of the relevant evidence.

Aus dem Cass-Review ist bekannt, dass 50 % der relevanten Studien nach 2019 veröffentlicht wurden, d. h. ein Großteil der relevanten Evidenz wurde also während der 7-jährigen Erstellung der S2k-LL nicht systematisch recherchiert und bewertet.

Laut SEGM gibt es viele weitere Abweichungen vom evidenzbasierten Prozess, wie er von der AWMF (Leitlinien-Dachorganisation) beschrieben ist. Beispiele:

  • Es gab keine ausdrückliche Verknüpfung zwischen den jeweiligen Empfehlungen und einer nach dem Grad der Sicherheit bewerteten Evidenzbasis. Stattdessen wurden die Empfehlungen mit den Ergebnissen einzelner Studien begründet, die ohne Prüfung des Verzerrungsrisikos als vertrauenswürdig präsentiert wurden. Selbst der niedrigere S2k-Standard wurde möglicherweise nicht eingehalten, da laut SEGM viele Grundvoraussetzungen für vertrauenswürdige Qualitätsleitlinien nicht erfüllt sind.
  • ALLE 72 Empfehlungen sind konsensbasiert (Abstimmung von Experten-Meinungen) und nicht evidenzbasiert. SEGM bezeichnet die Behauptung der LL-Kommission, evidenzbasierte Empfehlungen seien aufgrund der geringen Qualität der Evidenz nicht möglich, als unzutreffend, da die Empfehlungen einer qualitativ hochwertigen evidenzbasierten Leitlinie auf der best verfügbaren Evidenz beruhen, um vertrauenswürdig zu sein.

However, as is widely known, evidence-based guidelines can be created regardless of the level or strength of the available evidence. As long as a rigorous process for guideline development is followed, an evidence-based guideline can be produced even in the context of extremely limited, low-quality evidence.

  • Vielfach referenzieren die Empfehlungen der S2k-LL auf Empfehlungen von WPATH SOC und Endocrine Society, von denen behauptet wird, dass sie ihrerseits ein hohes Evidenzniveau erfüllten, was im SEGM-Faktencheck allerdings bestritten wird. Cass hatte aufgedeckt, dass zum einen diese beiden Leitlinien (WPATH und ES) sehr eng miteinander verknüpft sind (sich z. B. gegenseitig zitieren) und sich zum anderen viele Leitlinien auf WPATH und ES beziehen, statt auf qualitativ hochwertige Belege. Sie schrieb:
    9.22 The circularity of this approach may explain why there has been an apparent consensus on key areas of practice despite the evidence being poor.”
  • Zudem nennt die S2k-LL auch an einigen Stellen den Cass-Review (2022, Interims Report). Prof. Romer (LL-Koordinator) impliziert allerdings beachtlich unzutreffend, dass selbst der Abschlussbericht des Cass-Reports mit den deutschen Empfehlungen weitgehend übereinstimme:
    „Alle wichtigen Empfehlungen des »Cass Reports« waren uns aus Vorveröffentlichungen bereits bekannt und wurden entsprechend eingehend in der Leitlinie berücksichtigt. Die graduellen Unterschiede der Empfehlungen des Reports zu unseren Empfehlungen werden teilweise aufgebauscht. Es gibt sehr viele Übereinstimmungen in unserer Leitlinie mit den Cass-Empfehlungen." (Spiegel, 23.4.2024)
    „Die Mitglieder der Leitlinienkommission haben den Review in ihrer Arbeit bereits berücksichtigt. Sie schließen sich den Forderungen der Autorin Hilary Cass weitgehend an. Empfehlungen aus dem Report sind in die Leitlinie eingeflossen.” (riffreporter, 17.05.2024)
  • Es wurde versäumt, die Kommission zur Erstellung der S2k-Leitlinie repräsentativ zusammenzusetzen bzw. alle betroffenen Gruppierungen angemessen einzubeziehen, so dass es an einer Vielfalt von Ansichten fehlte. Das zeigte sich zum einen durch die Aufgabe der Mitwirkung eines Mitglieds des LL-Lenkungsausschusses aufgrund berufsethischer Bedenken und Bedenken zu Aspekten des Kinder- und Jugendschutzes.
    Zum anderen wurden während der Kommentierungsphase (20. März bis 19. April 2024) abweichende Stellungnahmen von Ärzten und Professoren erstellt und eingereicht (s. unten).
  • Auch fehlte die Vielfalt bei der Patientenperspektive (Eltern, Desister, Detransitionierte).
  • Die (Un-)abhängigkeit von Interessenkonflikten wurde infrage gestellt und muss noch geklärt werden.

Die SEGM kommt aufgrund ihrer detaillierten Analyse zu dem Schluss, dass die S2k-Leitlinie die Grundvoraussetzung einer glaubwürdigen, vertrauenswürdigen, evidenzbasierten Leitlinie nicht erfüllt.

Evidenzrecherche und -berichte

Die LL-Kommission hat die systematische Literaturrecherche bereits zwischen 2017 und 2020 aus Gründen des „Aufwands" eingestellt und auf Basis einer „pragmatischen Vorgehensweise" unsystematisch mit einzelnen Veröffentlichungen, z. B. WPATH SOC8 weitergemacht.

Für uns als betroffene Eltern ist völlig unverständlich, warum kein für Evidenzrecherchen bzw. -berichte prädestiniertes unabhängiges Institut, wie z.B. das IQWIG zur Unterstützung der Erstellung der ursprünglich in der Kategorie S3 geplanten Leitlinie hinzugezogen wurde. 

Kritik von Eltern an der S2k-Leitlinie

Von Seiten betroffener Eltern (TTSB und ParentsofROGD) wurde in mehreren Brief-Aktionen begründet, warum die geplanten S2k-Leitlinie nicht vertrauenswürdig ist und die Sicherheit der Teenager, die ihr Gender/Geschlecht infrage stellen und Hilfe benötigen, gefährdet:

  1. Offener Brief an die Fachgesellschaften (12.04.2024)

„Lebenslange Eingriffe“ – Eltern verlangen Stopp von Behandlungsleitlinie für Trans-Kinder“, Welt, 15.04.2024

  1. Offener Brief an die Bundesärztekammer (05.05.2024)

„Experimentelle Medizin an Kindern“, Welt, 13.05.2024

  1. Brief an die Ombudsstelle der DGKJP (21.05.2024)

Kritik von Fachleuten an der S2k-Leitlinie

Außer von der Society for Evidence-Based Gender Medicine wird die geplante S2k-Leitlinie auch von anderen Fachleuten aufgrund methodischer und inhaltlicher Schwächen stark kritisiert:

Kommentar von 14 Professoren für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Zu vielen inhaltlichen und formalen Aspekten haben 15 Professoren für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ca. die Hälfte der Professuren dieses Faches mit eigenem Lehrstuhl in Deutschland repräsentieren, ihre profunde Kritik in einer 111-seitigen Kommentierung geäußert und die dringende Überarbeitung bzw. Rücknahme der Leitlinie gefordert.

Gemeinsame Kommentierung des Entwurfs der neuen S2k-Leitlinie "Geschlechts­inkongruenz und Geschlechts­dysphorie im Kindes- und Jugendalter" Version v. 21.05.2024, -DE, -EN

Behandlungsleitlinie für „Trans“-Kinder – Jugendpsychiater schlagen Alarm, Die WELT, 25.04.2024

Leitlinie zur Transtherapie entzweit die Kinder- und Jugendpsychiatrie, Lenzen-Schulte, cicero, 21.05.2024

ESCAP

Kürzlich erinnerte die European Society for Child and Adolescent Psychiatry an das Prinzip „primum-nilnocere“ – sie hat dazu wichtige Impulse veröffentlicht, Fazit: Im Sinne klinischer, wissenschaftlicher und ethischer Standards müsse unbedingt auf experimentelle und unnötig invasive Behandlungen bei genderdysphorischen Minderjährigen verzichtet werden.

ESCAP statement on the care for children and adolescents with gender dysphoria: an urgent need for safeguarding clinical, scientific, and ethical standard, 27.04.2024

Deutscher Ärztetag

Der Deutsche Ärztetag hat am 10.05.2024 einen Leitantrag verabschiedet, in dem vor dem Hintergrund der bestehenden Evidenzlage die medizinische Transition „nicht nur vom Willen eines sich in der Entwicklung befindenden Kindes bzw. Jugendlichen abhängig gemacht werden“ darf.

Harte Ärzte-Kritik am Selbstbestimmungsgesetz - So reagiert die Ampel, WELT, 15.05.2024

Dr. David Bell

Dr. David Bell, Ex-Tavistock-Governor, äußerte bereits im September 2023 deutliches Unverständnis über den „deutschen Weg“:

„Da ich viele Kontakte zu deutschen Kolleginnen und Kollegen habe, bin ich erschüttert darüber, dass die Dinge in Deutschland so weit zurückliegen.”


Presse

Thomas Thiel berichtet, dass es auf fachlicher Ebene „heftigen Gegenwind" gibt, gegenüber dem S2k-Leitlinienentwurf, der einen transaffirmativen Ansatz vertritt. Nach Kritik vonseiten einer größeren Professorengruppe, des Bundesärztetages, der größten Fachgesellschaft (DGPPN) sowie der SGKJP (Schweiz), ist die Ansicht von Psychotherapeutin Sabine Maur (Mitglied der LL-Kommission), es handele sich um eine Außenseiterposition Einzelner, nicht mehr glaubwürdig.

Die Leitlinie soll nach den Worten von Sabine Maur möglichst bis September verabschiedet werden. Das letzte Wort scheint darüber noch nicht gesprochen zu sein."

Der Körper ist kein Sprechakt, FAZ. T. Thiel, 25.06.2024

Dr. Antje Jelinek, ruhrbarone

Als langjährig tätige Apothekerin, Fachbuchautorin und Referentin hat Dr. Antje Jelinek schon etliche Leitlinien gelesen, über den S2k-Leitlinienentwurf ist sie allerdings entsetzt.

„Eigentlich sollen Leitlinien hilfreich für die Ärzte sein und ihnen ihre Therapieentscheidungen erleichtern, so dass sie auf fundierter wissenschaftlicher Grundlage im besten Sinne ihrer Patienten arbeiten können. Aber diese Leitlinie ist gefährlich und sie widerspricht tatsächlich den ethischen Grundsätzen der Medizin.”

Auch Till Amelung kommt in ihrem Blog-Beitrag zu Wort:

„Warum eine zugewandte, dem Stand der Wissenschaft entsprechende Psychotherapie bei Geschlechtsdysphorie mit Konversionstherapie gleichgesetzt wird, eine medikamentöse Intervention mit schwacher Evidenzbasis aber nicht, erscheint klärungsbedürftig.“

Selbst gegengeschlechtliche Hormone würden völlig unkritisch eingesetzt, von Psychologen empfohlen, die nicht einmal eine pharmakologische Ausbildung hätten.

Schon 'bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht' ist eine irreführende und ideologiegeprägte Formulierung, ruhrbarone, 03.04.2024


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