Deutschland: Wende oder 'Weiter so'?

AdobeStock 48300564 Seit einiger Zeit weichen Finnland und Schweden bei den Empfehlungen für die Behandlung von genderdysphorischen Jugendlichen unterschiedlich deutlich von den  WPATH SOC8 ab und fördern nun psychiatrische/psychologische Behandlung sowie psychosoziale Unterstützung als erste Behandlungslinie. In Großbritannien stehen der bisherige klinische Ansatz und die Gesamtkonzeption der GD-Behandlung offensichtlich vor grundlegenden strukturellen und inhaltlichen Änderungen (Neue Leistungsbeschreibung), das Tavistock GIDS wird geschlossen. Auch in Frankreich mahnt die Academie nationale de Médecine zur Vorsicht bei der Anwendung von Pubertätsblockern und CSH. Das Australian and New Zealand College of Psychiatrists hat bereits 2021 in einer Stellungnahme den Mangel an qualitativ hochwertiger Forschung benannt und sich sehr nuanciert zur derzeitigen Behandlungssituation geäußert. Seit Herbst 2022 bremst auch Florida, die Ärztekammern lassen keine neuen körpermedizinischen Behandlungen bei Minderjährigen in allgemeinmedizinischen Einrichtungen mehr zu. Seit 2023 sieht es so aus, als würden auch Norwegen und Dänemark vorsichtiger.

Die Gründe für die Abkehr

Systematische Überprüfungen der Behandlungsplausibilität mit folgenden Resultaten:

  • die unzureichende, nicht schlüssige Evidenzlage für invasive somato-medizinische Behandlungen für die aktuelle Kohorte von Teens mit Genderproblemen,
  • der ungeklärte signifikante Anstieg der Fallzahlen bei GD-Teens und -Twens (insbesondere ♀) weltweit,
  • die auffällig hohe Rate an psychiatrischen Erkrankungen und Diagnosen bei Jugendlichen vor der Pubertät,
  • Frankreich betont zudem, dass bisher keine genetische Prädisposition für Trans-Identität gefunden worden sei.

In Schweden wurde eine Reihe von Fällen dokumentiert, bei denen Jugendliche durch Pubertätsblocker schwer geschädigt worden waren: SVT-Sendung, November 2021.

Finnland setzt sogar die Weiterentwicklung der Empfehlungen aus, bis der Fallanstieg erforscht ist, einige Länder beginnen damit, die Fälle landesweit zu registrieren. Die genannten Länder setzen einen neuen Trend, indem sie den psychologischen und psychiatrischen Behandlungen Vorrang vor medizinischen Interventionen einräumen, insbesondere für GD-Jugendliche ohne Genderdysphorie in der Kindheit. Außerdem gibt es teilweise strengere Regeln für die 'Informierte Einwilligung' und Empfehlungen, bestimmte medizinische Maßnahmen erst in höherem Alter zuzulassen, beispielsweise sollten in Finnland Twens nicht vor dem 25. Lebensjahr körpermodifizierende Operationen erhalten. Finnlands Apotheken nehmen mittlerweile auch keine Rezepte des Online-Anbieters GenderGP mehr an.

Diese Tabelle  zeigt beispielhaft einige Abweichungen zwischen den WPATH SOC8 und der schwedischen Linie.

Debate Heats Up on How Best to Treat Gender-Questioning Kids, medscape, 02.03.2022

Bei den nordischen Ländern, wie Finnland und Schweden handelt es sich um anerkannt fortschrittliche Länder

"meaning that even the most strident trans activists will struggle to portray its health authorities as Scandinavian sock puppets for America’s religious Right",  B. Lane, 13.05.2022

"While media outlets have bumped up transphobia headlines at the merest whisper of scepticism about “trans health care,” experts in SwedenFinland, the United KingdomAustralia, and New Zealand have carried out systematic reviews of the medical literature on hormonal and surgical treatment for youth gender dysphoria. Their findings are sometimes hedged with identity-politics sloganeering to forestall activist attacks, but the common conclusion is that the evidence base for these treatments is weak; very weak." B. Lane, 13.05.2022

Letter from Finland and Sweden, 22.07.2022

Increasing Number Of European Nations Adopt A More Cautious Approach To Gender-Affirming Care Among Minors, Forbes, 06.06.2023

 

Europa: In den Niederlanden, wo die umstrittensten Maßnahmen für Kinder und Jugendliche entwickelt wurden, sind nun Zweifel aufgekommen:

The Uncertain Future of Gender Care for Teens in Europe, F. Klotz, 28.04.2023

 

Evidenz ist nicht gleich Evidenz

Wie ist die Situation in Deutschland?

In Deutschland ist die Evidenz-Situation für die Behandlungsstandards und die Forschungslage zum Anstieg der Fallzahlen vermutlich nicht anders. Trotzdem schreitet die Formulierung neuer Leitlinien zur „Verbesserung der Qualitätsstandards in der medizinischen Versorgung” für das Kindes- und Jugendalter langsam fort. Deren geplante Fertigstellung wurde am 03.02.2023 zum 5. Mal (!) verschoben, nun auf den 31.12.2023. Sie sollen die 2013 herausgegebene S1-Leitlinien ablösen, die nach der üblichen 5-jährigen Gültigkeit 2018 ausgelaufen waren und von der AWMF aus dem Netz genommen wurden. Groteskerweise verweisen einige PolitikerInnen, ExpertInnen, Medien immer wieder auf diese Leitlinien, obwohl es derzeit keine gültigen gibt.

Die Leitlinienkommission verweist einstweilig auf die relativ vagen Leitlinien internationaler Gremien, insbesondere WPATH, die einen „individualisierten Ansatz” präferieren und deren Empfehlungen aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Belege häufig auf Basis einer Experten-Abstimmung (Expertenkonsens) zustande kommen. Außerdem wird auf die Ad-hoc-Stellungnahme des Dt. Ethikrates von 2020 verwiesen, allerdings:

"Der Ethikrat hat mit seiner Stellungnahme zur Behandlung geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendlicher wenig Hilfreiches beigetragen, insofern darin lediglich die bestehenden Positionen beschrieben wurden, um für beide Verständnis zu äußern. Die erhoffte Auseinandersetzung bezüglich der ethischen Bewertung ist gerade ausgeblieben." Korte, 2022

Die Frage ist, ob es auch hierzulande signifikante Abweichungen von den WPATH-SOC8 für Teens&Twens geben wird oder ob die WPATH-SOC8-Konformität oberstes Ziel ist? Wie steht es beispielsweise mit

  • der Sicherung von Diagnose und Differenzialdiagnose?
  • der Priorisierung nicht invasiver Behandlungsmöglichkeiten wie angemessene Psychotherapie, Familientherapie, Behandlung von Komorbiditäten?
  • den Mindestaltersempfehlungen, die von der WPATH gerade abgeschafft wurden?
  • der Registrierung der Fälle, um statistische Aussagen machen zu können?
  • Forschungsanreize und -möglichkeiten?
  • der Standardisierung und Optimierung der sog. informierten Zustimmung und der Integration von konstruktiver Ethik-Kompetenz?

TTSB-Stellungnahme zur Klinikschließung | Forderung nach ganzheitlicher Behandlung von GD-Teens & Twens   vom 05.08.2022

So beschreiben E. Strittmatter und M. Holtmann die Situation für GD-Jugendliche in Deutschland:

Neben der fehlenden sicheren Vorhersagbarkeit erscheint es problematisch, dass unter Expertinnen und Experten keine einheitlichen Entscheidungskriterien vorhanden zu sein scheinen. Vielmehr differiert die Entscheidung, welche Behandlungsangebote geschlechtsdysphorische Jugendliche erhalten je nach aufgesuchter Spezialsprechstunde, nach subjektiver Einschätzung der Untersuchenden vom 'Passing' in der angestrebten Geschlechtsrolle und nach der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen, d. h., wie glaubwürdig und konsistent das innere Erleben geschildert werden kann.” (Fettmarkierung fehlt im Original)

Geschlechtsidentitäten im Wandel, E. Strittmatter, M. Holtmann, 12.03.2020

Zur aktuellen Situation äußert sich Prof. Martin Holtmann, er schreibt auch:

Die divergierenden Expertenmeinungen spiegeln sich wider in der ungewöhnlich langen Dauer der Erarbeitung der S3-Leitlinie „Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter, Diagnostik und Behandlung“ und der wiederholten Verschiebung von deren Fertigstellung.

Der erschütternde Seismograf – Zur Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Transgender-Kontroverse, Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 08.09.2023

 


Nach der Ankündigung der Schließung des Tavistock GIDS

Bernard Lane, australischer Journalist, fragt:

"How, then, did the UK manage to devise and enact a credible policy shift toward caution on the issue of medicalised gender change for minors? Are there lessons for countries such as the United States, Canada, Australia, New Zealand, Germany, and Spain, where, so far, dogmatic slogans have trumped critical thought?"

Andere Länder schlafen seiner Meinung nach noch:

"This is a sleeper issue in many affluent countries, where youth gender clinics have gone from novelty to claimed essential service in the space of just a few years, with scant official oversight or public awareness. Britain’s path to remedying this situation, however incomplete the process may be, offers a precedent that responsible politicians, journalists, clinicians, and parents in other nations should monitor carefully."

Shuttering the Tavistock - The closure of Britain’s scandal-plagued youth gender clinic could help protect distressed children from unnecessary medicalisation, B. Lane, 05.08.2022

GB: Leistungsbeschreibung für den neuen GD-Dienst, 20.10.2022