Finnland: Priorisierung von Psychotherapie

finnish flag 123273 by MerjaPartanen Vor über einem Jahr gab Finnland neue Richtlinien heraus, die Psychotherapie statt Pubertätsblocker und Hormone zur Erstbehandlung von genderdysphorischen Jugendlichen vorsehen. Irreversible 'geschlechtsbejahende' Interventionen sollen nicht mehr für unter 25-Jährige verfügbar sein. Damit weicht die finnische Gesundheitsbehörde deutlich von den WPATH-SoC ab. Grundlage für diese Entscheidung war eine systematische Überprüfung der Behandlungsplausibilität mit dem Resultat einer nicht schlüssigen Evidenzlage.

Die finnische Gesundheitsbehörde setzt die Überarbeitung der Richtlinien so lange aus, bis die Forschung in der Lage ist, den jüngsten starken Anstieg von Jugendlichen mit GD (davon im Übermaß ) zu erklären. Außerdem muss belegt sein, dass die geschlechtsbejahende körpermedizinische Behandlung die Gesundheitsergebnisse verbessern und die Detransitions-Rate soll quantifiziert werden. Finnlands Apotheken nehmen mittlerweile keine Rezepte des Online-Anbieters GenderGP mehr an.

In Deutschland ist die Evidenzsituation nicht anders. Die Frage, woher der signifikante Anstieg der Zahlen von GD-Jugendlichen kommt, wird hierzulande auch stets thematisiert, aber es gibt (unseres Wissens) keine Bestrebungen, die Situation zu erforschen. Trotzdem schreitet die Formulierung neuer Leitlinien für Kinder- und Jugendliche mit Genderdysphorie in Deutschland fort. Deren geplante Fertigstellung wurde bisher 4 Mal (!) um 1 Jahr verschoben und steht aktuell auf dem 31.03.2023.

One Year Since Finland Broke with WPATH „Standards of Care", SE GM

Finnische Leitlinien für GD bei Jugendlichen im Original

Finland Takes Another Look at Youth Gender Medicine, 23.02.2023

In die Kritik geraten: „Dutch Protokoll” als Referenz für Teens & Twens

In den Niederlanden wurde erstmals in den 90er Jahren mit Pubertätsblockern experimentiert, Die Experten dort waren der Auffassung, dass Transsexualität im Gehirn des Menschen verankert ist. Die einfachere Lösung schien für sie die Anpassung des Körpers zu sein.

Puberty blockers for gender dysphoria: The Dutch protocol, in diesem Video-Vortrag skizziert Prof. M. Biggs (Oxford) die Ursprünge der Pubertätsblockierung in den Niederlanden

Mehr zum "Niederländischen Protokoll", mehr zu Pubertätsblockern

Die in den Niederlanden praktizierte Behandlung von Genderdysphorie mit Pubertätsblockern (PB) und Hormonen (CSH) wurde 2006 im European Journal of Endocrinology veröffentlicht und seither zügig in anderen Ländern übernommen. Praktisch weltweit wird das sog. „Dutch Protokoll” als Referenz herangezogen, auch für die neue Kohorte von Teens und Twens, die erst mit Beginn oder im Laufe der Pubertät genderdysphorisch sind und zahlenmäßig mittlerweile die weitaus größte Gruppe ist.

Die leitende Prüfärztin des niederländischen Protokolls, A. deVries, hat die medizinische Fachwelt 2020 in einem in Pediatrics veröffentlichten Kommentar darauf hingewiesen, dass die positiven Ergebnisse früher medizinischer Interventionen in den Niederlanden nicht automatisch für ROGD-Jugendliche gelten, weil diese Kohorte zum einen nicht an den damaligen Evaluierungsstudien (mit bspw. überwiegend biologischen ♂) teilgenommen hat, zum anderen einige Besonderheiten aufweist und weil oft nicht alle Kriterien des Dutch-Protocols eingehalten werden, z. B. Mindestalter und bezüglich Komorbiditäten.

Nach dem sog. Dutch-Protocol kamen 12jährige für Pubertätsblocker in Frage, 16jährige für Cross-Sex-Hormone und 18jährige für körpermodifizierende Operationen. Die Kriterien für die Behandlung bei Jugendlichen waren in den Niederlanden:

  • die Genderdysphorie sollte bereits in der frühen Kindheit begonnen haben
  • die Person sollte psychologisch stabil sein und nicht unter anderen psychischen Problemen leiden
  • die Person hat die Unterstützung und Zustimmung seiner Familie

In den USA wurde ab ca. 2007 mit Pubertätsblockern und CSH behandelt, in England von 2010 bis 2011 ab 16 Jahren, ab ca. 2011 ab 12 Jahren, Deutschland in einzelnen Fällen ab 2005, standardmäßig ca. seit 2010 allerdings ohne Berücksichtigung aller im niederländischen Protokoll genannten Kriterien und Altersgrenzen, d. h.:

Viele der Jugendlichen wären nach Dutchprotokoll für diese Art der Behandlung gar nicht in Frage gekommen bzw. hätten „nicht zugelassen" werden dürfen, weil sie den Kriterien und Altersgrenzen nicht entsprachen: Sie waren zu jung, hatten Kormobiditäten und keine frühkindlichen Genderproblematik. Trotzdem wurde paradoxerweise weltweit auf das Dutch-Protokoll referenziert.

Die Finnen gehörten zu den ersten, die wegen der sich verändernden Epidemiologie der Genderdysphorie bei Jugendlichen alarmiert waren und 2015 die starke Überzahl an ♀ Jugendlichen artikulierten (Kaltiala-Heino u. a., 2015).

The Finnish researchers saw a new pattern of 'severe psychopathology preceding onset of gender dysphoria‘, with 75 % already in treatment for other psychiatric issues when their‘ gender dysphoria emerged. Abbruzzese u. a., 2023

Die WPATH hat in ihren neuen (2022) erscheinenden SoC8-Leitlinien die Altersgrenzen völlig aufgehoben. Für Pubertätsblocker ist allerdings weiterhin das Einsetzen der Pubertät (Tanner-Stadium II) ohne Mindestalter Voraussetzung.

Riittakerttu Kaltiala

Die Professorin für Jugendpsychiatrie an der Universität Tampere und leitende Psychiaterin in der Abteilung für Jugendpsychiatrie an der Universität Tampere, Riittakerttu Kaltiala, erklärte im Februar 2022, dass sie und ihre KollegInnen seit 2011 im finnischen Patientenprofil hauptsächlich Mädchen im Teenager-Alter gesehen haben, von denen viele schwere psychische Störungen seit der Kindheit hatten, übermäßig isoliert lebten mit „einer Menge an Sozialen-Medien-Nutzung" aber auch Peer-Group-Effekten - ein Profil, das sich deutlich von der Literatur zum Dutch-Protokoll unterscheidet.

"The evidence base for medical gender reassignment starting during [the developmental years of adolescence] is minimal, actually non-existent."

Das sind laut Prof. Kaltiala die Schlussfolgerungen der unabhängigen Untersuchung, nach der Finnland zur Psychotherapie als Erstbehandlung bei GD wechselte.

Bei der Psychotherapie gehe es natürlich nicht darum, die Identität zu ändern, sondern um eine psychosoziale Intervention, die die Erkundung und Identitätserkundung erleichtert und die Identitätsarbeit unterstützt, die normalerweise während dieser Entwicklungsphase stattfindet.

Kaltiala antwortete auf die Frage, was sie gedacht habe, als sie zum ersten Mal von ROGD gehört habe:

"Oh, you know, I thought this is exactly what we are seeing in our clinic because after the first years, when I was first talking about this adolescence who had lots of psychiatric symptoms and severe psychiatric problems and we were so troubled, so what's wrong because we are seeing something else than what the world is talking about."

MDK: Ausschöpfung psychiatrischer und psychotherapeutischer Möglichkeiten

Nach der Auffassung des medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Deutschland (Richtlinien des MDK), der die Kostenübernahme von medizinischen Maßnahmen formal prüft, sollten vor invasiven medizinischen Eingriffen am gesunden Körper alle psychiatrischen und psychotherapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung des krankheitswertigen Leidensdrucks ausgeschöpft sein. Mehr zu der MDK-Richtlinie ...

Diese Priorität findet sich nicht in den WPATH-Leitlinien Kapitel Adolescent und auch nicht in den für Deutschland geltenden AWMF-Leitlinien für Erwachsene. Dort heißt es sogar an einer Stelle:

"Psychotherapie soll nicht ohne spezifische Indikation angewandt und keinesfalls als Voraussetzung für körpermodifizierende Behandlungen gesehen werden" (Empfehlung S. 14)

Der geplante Fertigstellungstermin der neuen AWMF-S3-Leitlinien für Kinder und Jugendliche wurde am 01.04.2023 auf Ende 2023 verschoben. 

Bei WPATH ist auch für Jugendliche in der Regel von psychotherapeutischer und psychosozialer Beratung und nur bezogen auf die Standard-Behandlung mit Hormonen und Operationen die Rede, nicht als alternative bzw. eigenständige Option.