Kritik von SEGM an der S2k-Leitlinie
Die Society for Evidence Based Gender Medicine
Die Übersetzung der SEGM-Analyse der S2k-Leitlinie (auch als ):
2025 Deutsche Leitlinie für die Diagnose und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter
Trotz des neuen vorsichtigen Tons bleibt die Leitlinie nicht-evidenzbasiert und ebnet den Weg für anhaltend unangemessene Transitionen bei Jugendlichen
Kernpunkte
- Die deutsche Leitlinie erreicht nicht die ursprünglich angestrebte Evidenzstärke und damit die Kategorie S3 „evidenzbasiert“ und wurde deshalb auf die Kategorie S2k „konsensbasiert“ herabgestuft.
- Als Reaktion auf die Kritik aus dem In- und Ausland wurden einige der ursprünglichen Empfehlungen überarbeitet und mit größerer Vorsicht formuliert.
- Die endgültige Leitlinie erkennt an, dass die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen, die heute Probleme mit ihrem Geschlecht haben, lediglich „mit ihrem Geschlecht unzufrieden“ sind und keine medizinische Transition vornehmen sollten.
- Trotz der vorsichtigeren Darstellung bleiben die Empfehlungen der Leitlinien weitgehend unverändert, und es steht bereitwilligen Ärzten frei, jedem hinreichend entschlossenen Jugendlichen eine Transition zu ermöglichen.*)
- Die Leitlinie enthält Belege für erhebliche, nicht gemanagte Interessenkonflikte, einschließlich einer a priori Übereinstimmung mit WPATH-Positionen, der Förderung von Transitionsbehandlungen durch die Leitung von Gender-Kliniken und -Organisationen sowie Verbindungen zu Pharmaunternehmen.
- Die vernichtende Analyse der Cass-Review in der Leitlinie basiert in hohem Maße auf dem diskreditierten „Yale“-Bericht und beruht auf einem Missverständnis der Rolle und des Prozesses „unabhängiger Überprüfungen“.
- Zwei deutsche medizinische Fachgesellschaften lehnten die endgültige Leitlinie vollständig ab, und mehrere weitere gaben alternative Empfehlungen ab. Die Schweiz hat die Leitlinie noch nicht akzeptiert und eine eigene zusätzliche Überprüfung eingeleitet.
- Die fortgesetzte Abhängigkeit von einer konsensbasierten Leitlinie, die von gender-affirmativen Klinikern mit nicht berücksichtigten Interessenkonflikten COIs verfasst wurde, ist nicht zu rechtfertigen und wird das Fachgebiet weiterhin polarisieren.
- Es besteht ein dringender Bedarf an einer qualitativ hochwertigen evidenzbasierten Leitlinie, die nach hohen methodischen Standards entwickelt wird.
- Evidenzbasierte Leitlinien ermöglichen die Berücksichtigung anderer Faktoren neben der Stärke der Evidenz. Sie bringen jedoch ein Maß an Genauigkeit und Transparenz mit sich, das es den Nutzern von Leitlinien ermöglicht, wirklich fundierte Entscheidungen zu treffen – etwas, das Konsensleitlinien nicht leisten können.
Zusammenfassung
Im März 2025 veröffentlichte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland (AWMF) die endgültige Fassung der klinischen Praxisleitlinie zur Diagnose und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen (im Folgenden: Leitlinie). Die Leitlinie soll neben Deutschland auch in Österreich und der Schweiz angewendet werden. Obwohl ursprünglich als „evidenzbasierte“ (S3) Empfehlungen vorgesehen, erreichte die Leitlinie diesen Status nicht und wurde im Januar 2024 auf eine niedrigere Einstufung von „Konsens“ (S2k) herabgestuft.
Der nicht evidenzbasierte Charakter der Empfehlungen wurde in einem begleitenden
„Zu einzelnen Interventionen in der Behandlung der Genderinkongruenz bzw. Genderdysphorie wurden keine evidenzbasierten Empfehlungen erstellt“, Leitlinienreport, S. 6.
Die Leitliniengruppe begründet das Nichterreichen des „evidenzbasierten“ S3-Niveaus damit, dass es aufgrund der schlechten Evidenzlage nicht möglich war, eine evidenzbasierte Leitlinie zu erstellen. Diese Erklärung ist nur teilweise richtig – die Evidenz in diesem Bereich der Medizin ist in der Tat schlecht. Die Erstellung evidenzbasierter Leitlinien ist jedoch immer möglich, wie das deutsche AWMF-Regelwerk zeigt, das klare Schritte für die Entwicklung einer S3-Leitlinie festlegt:
- Durchführung einer systematischen Suche nach Evidenz (die immer möglich ist)
- Bewertung der Evidenz nach Qualität; und
- Erarbeitung von Behandlungsempfehlungen und Zuweisung einer Stärke zu jeder Empfehlung, geleitet von der Evidenz und informiert durch zusätzliche Faktoren.
Die Leitliniengruppe scheiterte bereits am ersten Schritt: der Durchführung einer systematischen Evidenzrecherche. Obwohl diese Bemühungen bereits eingeleitet worden waren, beschloss die Gruppe im Jahr 2020, ihre systematische Evidenzrecherche auszusetzen, und berief sich stattdessen auf die systematischen Evidenzbewertungen der World Professional Association for Transgender Health (WPATH). Zu diesem Zeitpunkt war WPATH gerade dabei, eigene Evidenzbewertungen durchzuführen, die im Rahmen der Erstellung der Standards of Care 8 (SOC8)-Richtlinie bei der Johns Hopkins University in Auftrag gegeben worden waren. Die Entscheidung, sich auf WPATH zu verlassen, erwies sich jedoch als verhängnisvoll, nachdem WPATH die Veröffentlichung der Evidenzbewertungen der Johns Hopkins University unterdrückt hatte, als sie mit ungünstigen Ergebnissen konfrontiert wurde – ein wissenschaftlicher Skandal, der die Glaubwürdigkeit von WPATH bis ins Mark erschüttert hat. Da die deutsche Leitlinie keine systematische Überprüfung der Evidenz als Grundlage für ihre Empfehlungen hatte, verlor sie jeglichen Anspruch auf den S3-Status. Auch die anderen Schritte des evidenzbasierten S3-Prozesses wurden nicht befolgt, wie in unserer früheren Analyse der Methodik der Leitlinie dargelegt. Infolgedessen stufte die AWMF die Leitlinie zu Recht auf den niedrigeren S2k-„Konsens“-Status herab.
Als die Leitlinie im vergangenen Jahr (im März 2024) den beteiligten medizinischen Fachgesellschaften zur Verabschiedung vorgelegt wurde, wurden lediglich Kommentare zu „redaktionellen Verbesserungen“ wie Klarheit und Lesbarkeit erbeten (Zepf u. a., 2024, S. 2), während inhaltliche Kommentare zu den Empfehlungen selbst nicht erwünscht waren. Trotzdem wurde der Inhalt der Leitlinie stark kritisiert – sowohl von einer Gruppe deutscher Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die auch Mitglied der DGKJP (der federführenden Fachgesellschaft der Leitlinie) sind, als auch international. Die Kommentatoren wiesen auf eine Reihe von offensichtlichen Abweichungen von den Grundprinzipien der evidenzbasierten Medizin und der medizinischen Ethik hin. Nach dem Empfehlungsentwurf könnte praktisch jeder Jugendliche, der sich einer medizinischen Gender-Transition unterziehen möchte, dies auf der Grundlage des Autonomieprinzips tun, ohne dass es dafür ausreichende Schutzmaßnahmen gäbe. Als Reaktion auf den Entwurf veröffentlichte der Deutsche Ärztetag eine Resolution, in der er die Bundesregierung aufforderte, den Einsatz von Pubertätsblockern und Cross-Sex-Hormonen auf klinische Studien zu beschränken. Die anschließende wissenschaftliche Debatte verzögerte die Verabschiedung der Leitlinie um Monate und führte zu erheblichen inhaltlichen Überarbeitungen der Leitlinie.
Die endgültige Fassung der Leitlinie, die den medizinischen Fachgesellschaften im Herbst 2024 vorgelegt und schließlich im März 2025 verabschiedet wurde, ist in ihrer Haltung deutlich vorsichtiger als der zuvor veröffentlichte Entwurf. Die bemerkenswerteste Überarbeitung ist die klare Anerkennung der Tatsache, dass die meisten jungen Menschen mit genderbezogenen Problemen wahrscheinlich vorübergehend „mit ihrem Geschlecht unzufrieden“ sind und sich keiner Gender-Transition unterziehen sollten. Die Leitlinie räumt auch explizite Probleme bei der Beweisführung ein, erkennt die Rolle des sozialen Einflusses bei der Entstehung von Transgender-Identitäten bei Jugendlichen an und betont die Bedeutung der Differentialdiagnose. Sowohl im ursprünglichen Entwurf als auch in der endgültigen Fassung der Leitlinie heißt es außerdem, dass die ICD-11-Diagnose „Genderinkongruenz“ allein nicht ausreicht, um eine medizinische Transition zu rechtfertigen, und dass ein klinisch bedeutsamer Leidensdruck vorhanden sein muss. Dies zeigt eine willkommene Bindung an die klinische Realität, dass es gültige klinische Behandlungsziele geben muss, die über den Wunsch eines Jugendlichen nach einem anderen körperlichen Aussehen hinausgehen.
Trotz der vorsichtigeren Darstellung ist die Leitlinie jedoch wenig hilfreich, wenn es um die Operationalisierung der erklärten Notwendigkeit geht, bei der Behandlung der gegenwärtig auftretenden Fälle von genderdysphorischen Jugendlichen konservativ vorzugehen. So bietet die Leitlinie beispielsweise keine Kriterien zur Unterscheidung zwischen Fällen vorübergehender „Gender-Unzufriedenheit“ – die laut Leitlinie mehrere Jahre andauern kann und nicht zu einer Transition führen sollte – und „stabilen/persistierenden“ Fällen, die laut Leitlinie für endokrine und chirurgische Eingriffe infrage kommen (die genderbezogenen Diagnosen sind nicht hilfreich, da sie eine geringe zeitliche Stabilität aufweisen). Überdies erlaubt die Leitlinie medizinische Transitionen im Jugendalter bei psychischen Erkrankungen oder Autismus. Es scheint, dass die Leitlinie selbst in ihrer endgültigen Fassung jedem hinreichend entschlossenen Jugendlichen den Zugang zu Hormonen und chirurgischen Eingriffen ermöglicht, insbesondere wenn er von einem „gender-affirmativen“ Arzt behandelt wird, der die Autonomie des Jugendlichen über alles stellt.
Die „affirmative“ Haltung der Leitlinie ist nicht überraschend. In der Leitlinie wird offengelegt, dass die Autoren die Ansichten der WPATH und der Endocrine Society „überwiegend teilen“ (S. 239) – zwei Organisationen, die die Gender-Transition bei Jugendlichen weltweit nachdrücklich befürwortet haben. Wie aus der Version des Leitlinienreports vom März hervorgeht (S. 17), stützte sich die unsystematische Suche nach Belegen in hohem Maße auf handverlesene (und nicht systematisch durchsuchte) Studien aus den Standards of Care, Version 8 (SOC8) der WPATH. Wir haben in der Leitlinie Textstellen identifiziert, die fast wortwörtlich und Absatz für Absatz aus SOC8 übernommen wurden (Beispiele aus einem Abschnitt finden sich in Tabelle 1 am Ende dieses Beitrags). Eine solch starke Allianz mit der Pro-Medikalisierungs-Position von WPATH stellt einen potenziellen Interessenkonflikt (COI) dar.
Es ist schwierig, in diesem umstrittenen Bereich der Medizin alle Interessenkonflikte zu vermeiden, da viele der sachkundigsten Kliniker und Forscher bereits starke intellektuelle Positionen eingenommen haben (und oft auch finanziell von der untersuchten Praxis profitieren). Aus diesem Grund müssen COIs sorgfältig bewertet werden, um Voreingenommenheit zu vermeiden, idealerweise unter unabhängiger Aufsicht von externen Experten für COI-Management. Leider hat sich die Leitliniengruppe für ein internes und nicht für ein externes COI-Management entschieden. Zu den offensichtlichen Interessenkonflikten innerhalb der Leitliniengruppe und ihrer Führung gehören Führungspositionen in Gender-Kliniken, die Ausübung von Führungsrollen in der europäischen Partnergesellschaft von WPATH (EPATH) und in mindestens einem Fall offensichtliche Verbindungen zu Pharmaunternehmen, die Pubertätsblocker herstellen.
Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass unkontrollierte Interessenkonflikte die Fähigkeit der Leitliniengruppe zur Unparteilichkeit beeinträchtigt haben. Dies zeigt sich insbesondere darin, wie die Leitlinie mit der Diskussion über abweichende Behandlungsempfehlungen für Genderdysphorie in anderen europäischen Ländern umging, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem Cass Review lag. Der Cass-Review ist eine vom NHS England in Auftrag gegebene unabhängige Untersuchung, die die Erkenntnisse und Praktiken für die Transition von Jugendlichen in Großbritannien bewertet. Der Cass-Review trug dazu bei, dass das Vereinigte Königreich bei der Behandlung genderdysphorischer Jugendlicher in letzter Zeit vorsichtiger geworden ist, indem es Pubertätsblocker gegen Genderdysphorie nur noch in klinischen Studien zulässt und bei der Verschreibung von Cross-Sex-Hormonen eine wesentlich umsichtigere Vorgehensweise empfiehlt. In der Leitlinie wird der Cass-Review scharf kritisiert, wobei ein Großteil der Argumentation aus einem berüchtigten Dokument stammt, das als „Yale“-Bericht bekannt geworden ist (die Universität Yale hat mehrfach klargestellt, dass sie keine Verantwortung für den Bericht übernimmt, obwohl er auf der Website der juristischen Fakultät von Yale veröffentlicht wird). Wie aus mindestens drei in Fachzeitschriften veröffentlichten Analysen hervorgeht, enthält dieser sogenannte „Yale“-Bericht ein besorgniserregendes Maß an Fehlinformationen, missversteht die Rolle und das Verfahren „unabhängiger Überprüfungen“ (im Gegensatz zu Behandlungsleitlinien) und greift häufig zu Ad-hominem-Angriffen. Außerdem hat sich herausgestellt, dass der Bericht von einer Gruppe bezahlter Sachverständiger für US-Gerichtsverfahren erstellt wurde, und zwar speziell zur Verwendung in Gerichtsverfahren und nicht zu einem echten wissenschaftlichen Zweck. Eine Debatte über jedes wissenschaftliche Dokument, auch über das Cass-Review, ist angebracht und willkommen, aber sie muss auf genauen Fakten beruhen. Darüber hinaus bleibt unklar, ob die Gesellschaften, die für die Annahme der endgültigen Leitlinie gestimmt haben, die vollständige Fassung erhalten haben, die die Kritikpunkte des Cass-Reviews enthielt, oder ob sie über einen Teilentwurf abgestimmt haben, in dem der Abschnitt über die internationalen Änderungen fehlte, was offenbar der Fall ist.
Nach vielen Debatten und einer bedeutenden Überarbeitung des Leitlinienentwurfs wurde die endgültige Fassung der Leitlinie im März 2025 offiziell verabschiedet – ein Jahr nach der Veröffentlichung des ursprünglichen Entwurfs. Zwei der deutschen medizinischen Fachgesellschaften, die an der Entwicklung der Leitlinie beteiligt waren, weigerten sich jedoch, das Dokument zu unterzeichnen, und mehrere andere gaben alternative Empfehlungen ab, die in einem Anhang zur Leitlinie enthalten sind. Die Schweiz – aufgrund ihres deutschsprachigen Status ein weiterer vorgesehener Nutzer der Leitlinie – hat bis März 2025 noch nicht unterschrieben und eine eigene zusätzliche Überprüfung eingeleitet.
Ungeachtet dieser abweichenden Meinungen wurde die Leitlinie von den meisten medizinischen Fachgesellschaften, die an ihrer Entwicklung beteiligt waren, angenommen. Diese Zustimmung erfolgte trotz bedeutender Abweichungen von evidenzbasierten Leitlinienentwicklungsverfahren und anderer Unregelmäßigkeiten – wie einem fehlenden Rechtsgutachten, das sich mit der Frage der Einwilligung nach Aufklärung befasst, und einem offenbar fehlenden Kapitel über abweichende internationale Empfehlungen, das zwar im veröffentlichten Leitlinien-Report enthalten ist, aber offenbar nicht allen Gesellschaften vor der Abstimmung übermittelt wurde. Es ist fraglich, ob die viel beschäftigten Vorstände der medizinischen Fachgesellschaften die nötige Zeit und das nötige Fachwissen für die Bewertung der Leitlinie hatten, um sich angemessen mit den 555 Seiten mit teilweise sehr technischem Inhalt zu befassen, die in den beiden von ihnen verabschiedeten Berichten enthalten sind.
Die Tatsache, dass die deutsche Leitlinie schließlich von den meisten der Gesellschaften, die an diesem mühsamen, jahrelangen Prozess – der mit einer umstrittenen Überarbeitungsrunde endete – beteiligt waren, gebilligt wurde, spiegelt wahrscheinlich einen Zustand kollektiver Erschöpfung, den Wunsch nach Einigkeit und den Wunsch, voranzukommen, wider. Auch wenn die endgültige offizielle Verabschiedung der Leitlinie dazu beitragen mag, einige interne Meinungsverschiedenheiten zu überwinden, so ist sie doch nur ein schwacher Trost für Jugendliche in Gender-Notlagen und ihre Familien, deren Versorgung eher von Ideologie als von Wissenschaft und Evidenz bestimmt wird und die möglicherweise lebensverändernde Interventionen erhalten, die nicht auf den besten verfügbaren Erkenntnissen basieren und diesen sogar oft direkt widersprechen.
Die Situation in Deutschland ist kein Einzelfall. Als Reaktion auf das wachsende Bewusstsein für Probleme bei der Evidenzbasis für jugendliche Gender Transitionen haben mehrere Gruppen methodisch unzureichende Leitlinien erstellt, die weiterhin für jugendliche Transitionen plädieren und behaupten, dass der „Konsens“-Status der Leitlinien sie von der Verantwortung entbindet, ihre Empfehlungen auf die beste verfügbare Evidenz zu stützen. Ein Konsens ist zwar Teil jeder Leitlinienentwicklung, kann aber niemals ein Ersatz für einen evidenzbasierten Prozess sein.
Evidenzbasierte Leitlinien lassen ausdrücklich die Berücksichtigung anderer Faktoren als der Evidenz zu, einschließlich der Werte und Präferenzen der Patienten und ihrer Familien. Die wichtigste Stärke einer evidenzbasierten Leitlinienentwicklungsmethodik ist neben der Strenge ihre Transparenz: Die resultierenden Leitlinien legen die den Empfehlungen zugrunde liegende Evidenz offen, bewerten, wie vertrauenswürdig diese Evidenz ist, und beschreiben klar andere Faktoren, die die Empfehlungen beeinflusst haben. Diese Transparenz ermöglicht es den Nutzern der Leitlinien – von Kindern und Eltern bis zu behandelnden Ärzten – wirklich fundierte Behandlungsentscheidungen zu treffen. Dies fehlt völlig bei den „Konsens“-Leitlinien, die in der Regel von Gruppen Gleichgesinnter im Stil von „GOBSAT“ (Good Old Boys Sat Around the Table) erstellt werden.
Es ist schwer vorstellbar, wie der Bereich der Jugend-Gender-Medizin jemals über seinen derzeitigen beunruhigenden Zustand hinauskommen soll, wenn man nicht erkennt, dass das fortgesetzte Vertrauen auf „Konsens“-Leitlinien keine Lösung, sondern vielmehr ein zentraler Teil des Problems ist. Wenn „Konsens“-Leitlinien hochgradig invasive, lebensverändernde und oft irreversible Eingriffe empfehlen, aber nicht erklären, warum solche Behandlungen gerechtfertigt sind, wenn die Evidenz sie nicht stützt – und wenn solche nicht evidenzbasierten Empfehlungen dann den Anspruch des „Behandlungsstandards“ geltend machen – ist eine Regulierung von oben nach unten in Form von Verboten und anderen Einschränkungen zu erwarten. In Ländern und Staaten, die sich noch nicht auf eine solche Regulierung eingelassen haben, würde eine Verpflichtung zur Entwicklung von evidenzbasierten Leitlinien viel dazu beitragen, einen produktiven Dialog zwischen Fachleuten zu ermöglichen, denen die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die mit genderbezogenen Problemen zu kämpfen haben, sehr am Herzen liegt, die aber in der Frage, wie ihnen zu helfen ist, sehr uneins sind.
Trotz ihrer formellen Verabschiedung scheint die deutsche Leitlinie nicht bindend zu sein, sodass es jedem Kliniker überlassen bleibt, ob er ihren Empfehlungen folgen möchte. Im Folgenden wird eine detaillierte Analyse der endgültig verabschiedeten Leitlinie vorgestellt.
1 – Überblick über die deutsche AWMF-S2k-Leitlinie
Im März 2025 wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) die neue klinische Praxisleitlinie für die Diagnose und Behandlung von Genderdysphorie und Genderinkongruenz im Kindes- und Jugendalter verabschiedet. Die Leitlinie ist für Kliniker in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgesehen, aber nicht bindend.
Die Leitlinie erreicht nicht das ursprünglich angestrebte S3-Niveau „evidenzbasiert“ und wurde stattdessen in der niedrigeren Kategorie „konsensbasiert“ (S2k) zertifiziert. Die endgültig verabschiedete Version unterscheidet sich erheblich vom Entwurf des letzten Jahres. Die Aktualisierungen wurden als Reaktion auf ernsthafte Kritik an der Methodik und den Empfehlungen des Entwurfs aus dem In- und Ausland vorgenommen, wobei die Gesellschaft für evidenzbasierte Gender-Medizin (SEGM) ausführlich über methodische Probleme im vorherigen Entwurf geschrieben hatte. Während die endgültige verabschiedete Fassung einige, aber nicht alle inhaltlichen Kritikpunkte aufgreift, gilt die Mehrzahl der methodischen Kritikpunkte nach wie vor.
Die endgültige Fassung der Leitlinie ist wesentlich vorsichtiger als der zuvor veröffentlichte Entwurf, obwohl sie immer noch eine bedeutende Abweichung von der aktualisierten offiziellen Politik des Vereinigten Königreichs, Schwedens, Finnlands und der wachsenden Zahl von Ländern darstellt, die den „Affirmationsansatz“ aufgeben.
Der ursprüngliche Entwurf der Leitlinie vom März 2024 stimmte eng mit den Positionen von WPATH überein, die eine radikale Abkehr sowohl von der Evidenzbasis als auch von den ethischen Grundsätzen der Medizin darstellen. Gleichzeitig wich bereits der ursprüngliche Entwurf vom Ansatz der WPATH ab, indem er behauptete, dass die ICD-11-Diagnose „Genderinkongruenz“ allein nicht ausreicht, um eine hormonelle oder chirurgische Behandlung zu rechtfertigen. Stattdessen wurde in der Leitlinie festgelegt, dass ein junger Mensch neben dem Gefühl der „Inkongruenz“ auch eine bedeutende Belastung erfahren muss. Dieses Kriterium des klinisch bedeutsamen Leidensdrucks wurde in der endgültigen Fassung beibehalten. Die Erkenntnis, dass der Wunsch nach Körperveränderungen allein kein gültiges Ziel für eine klinische Behandlung darstellt, dient als Bindeglied zur klinischen Realität - was in der ICD-11-Diagnose, die selbst ein offensichtliches Produkt des politischen Aktivismus ist, zu fehlen scheint.
Kurz nach der Veröffentlichung des Entwurfs vom März 2024 kam es zu einer bedeutenden Debatte, die wahrscheinlich durch die weitverbreitete öffentliche Kritik angeheizt wurde - sowohl in Deutschland als auch international. Als Reaktion darauf wurde die Leitlinie im Oktober 2024 zur Verabschiedung überarbeitet und schließlich im März 2025 angenommen. Die endgültige Fassung enthält 79 Empfehlungen zu 5 Themenbereichen sowie 8 Evidenzaussagen. Die Empfehlungen sind nach ihrer Stärke kategorisiert:
- Stark (soll/sollen; starke Empfehlung): 19 Empfehlungen.
- Mäßig (sollte/sollten; Empfehlung): 45 Empfehlungen.
- Schwach (kann/können; Empfehlung offen): 7 Empfehlungen.
- 8 Empfehlungen enthalten ein Paar von entweder starken/mäßigen Aussagen oder mäßigen/schwachen Aussagen.
Der endgültige Text der Leitlinie wurde gegenüber dem Entwurf vom März 2024 grundlegend geändert. Die Stärke von 9 Empfehlungen wurde geändert, ohne dass eine Begründung dafür gegeben wurde. Abgesehen von geringfügigen Änderungen wurden 29 Empfehlungen geändert, darunter 6 neue Empfehlungen hinzugefügt und 2 gestrichen. Die Tabelle, die am Ende dieses Berichtes verlinkt ist, zeigt diese Änderungen im Detail. Bei näherer Betrachtung zeigen sich bedeutende Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit dem früheren Entwurf und den Bemühungen, diese in der endgültig angenommenen Fassung auszugleichen. Besonders besorgniserregend ist, dass das Verfahren zur Einstufung der Stärke der Empfehlungen undurchsichtig bleibt und anscheinend nicht mit der tatsächlichen Stärke der Evidenz übereinstimmt. Für eine weitere Diskussion siehe Abschnitt 4 „Methodische Bedenken“ unten.
Ein Schritt in Richtung Vorsicht – aber tiefgreifende Probleme bleiben bestehen
Die bemerkenswerteste Änderung in der neuen Version der Leitlinie im Vergleich zum vorherigen Entwurf ist die klare Anerkennung der Tatsache, dass die meisten jungen Menschen mit genderbezogenen Problemen wahrscheinlich vorübergehend eine „Gender-Unzufriedenheit“ erleben und sich keiner medizinischen Transition unterziehen sollten. Die Leitlinie erkennt nun die Rolle des sozialen Einflusses bei der steigenden Prävalenz der vorübergehenden Transgender-Identifikation unter Minderjährigen an und hat ihre Haltung zu „nicht-binären“ Jugendlichen überarbeitet. Insbesondere rät sie nun von der Verwendung von Pubertätsblockern ab und lehnt Operationen als Behandlungsoption für diese Gruppe kategorisch ab, obwohl ihre Position zu Cross-Sex-Hormonen weniger eindeutig ist.
In der neuen Leitlinie wurde auch die Empfehlung des vorherigen Entwurfs aufgehoben, dass psychologische Beurteilungen übersprungen werden können, wenn der Beginn der Pubertät die Transition als „dringend“ erscheinen lässt. In der aktuellen Fassung wird nun in allen Fällen eine psychologische Begutachtung gefordert, unabhängig von der wahrgenommenen Dringlichkeit, wobei empfohlen wird, diese Begutachtung unverzüglich durchzuführen. Darüber hinaus wurde die Empfehlung, die Eltern sozial transitionierter Kinder über die Möglichkeit einer späteren Detransition zu informieren, von „moderat“ auf „stark“ angehoben.
Trotz dieser begrüßenswerten Verschiebung hin zu größerer Vorsicht bleibt die Leitlinie jedoch grundsätzlich unglaubwürdig, da ihre Empfehlungen nicht evidenzbasiert sind. Es fehlt ihr auch an klinischem Nutzen, da sie keine Anleitung zur Unterscheidung zwischen vorübergehender „Unzufriedenheit mit dem Gender/Geschlecht“, die nicht zu einem medizinischen Eingriff führen sollte, und Fällen anhaltender Genderidentität bietet, die in der Leitlinie als Kandidaten für eine medizinische und chirurgische Transition betrachtet werden.
2 – Behandlungsempfehlungen
In der endgültigen Fassung der Leitlinie werden die Vorteile der Differentialdiagnose und die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen vorübergehenden Formen der „Gender-Unzufriedenheit“ (S. 26) und der „stabilen/persistierenden“ Genderinkongruenz bei jungen Menschen stärker betont. In der Leitlinie heißt es, dass bei Minderjährigen nur die stabile/persistierende Genderinkongruenz mit Hormonen und Operationen behandelt werden sollte.
In der Leitlinie werden die folgenden wichtigen Punkte in Bezug auf die Beurteilung von genderdysphorischen Jugendlichen anerkannt:
- Diagnostische Einschätzungen (Assessment) sind unbedingte Voraussetzung. Im endgültigen Entwurf der Leitlinie wird die Notwendigkeit einer Einschätzung unabhängig von der vom Patienten oder der Familie geäußerten Dringlichkeit bekräftigt.
- Eine Differentialdiagnose ist hilfreich. "Auch ist differentialdiagnostisch die Möglichkeit zu bedenken, dass, insbesondere so lange bei einer jugendlichen Person die Diagnose einer stabilen/persistierenden Genderinkongruenz bzw. Genderdysphorie noch nicht mit hinreichender Sicherheit gestellt werden kann, anderweitige psychische Probleme zu einer vorübergehenden Gender-Unzufriedenheit mit genderdysphorischen Symptomen führen können“, S. 74. Die Leitlinie erörtert auch die mögliche Rolle und den Einfluss von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) auf die Transgender-Identifikation (S. 81-4), obwohl es keine klare Anleitung dazu gibt, wie Kliniker einen solchen Befund interpretieren oder darauf reagieren sollten, wenn es um den Wunsch eines Jugendlichen geht, sich einer medizinischen Transition zu unterziehen.
- Genderbezogene Bedenken bei Jugendlichen sind weitverbreitet. Die Leitlinie stellt fest, dass „passagere Gender-Unzufriedenheit“ im Jugendalter sowohl weitverbreitet als auch häufig ist („ein weit verbreitetes Phänomen im Jugendalter ist“, 51; „ein häufiges Phänomen im frühen Jugendalter“, S. 53). In der Leitlinie wird auch anerkannt, dass diese Erfahrung manchmal bis ins Erwachsenenalter reicht (S. 26). Sie stellen fest, dass sich die Unzufriedenheit mit dem Geschlecht in einer „geschlechtsdysphorie-ähnlichen Symptomatik“ (S. 196) äußern und „zu einer vorübergehenden Selbstbeschreibung von Jugendlichen als trans führen“ (S. 100) kann.
- Jugendliche in einer vorübergehenden Gender-Notlage übertreffen bei weitem diejenigen, bei denen eine solche Notlage dauerhaft sein wird. In der Leitlinie wird eingeräumt, dass die Zahl der Jugendlichen mit vorübergehender Transgender-Identifikation deutlich größer ist als die derjenigen mit anhaltenden Gefühlen der Genderinkongruenz, wobei letztere nur „einen kleinen Bruchteil der berichteten Häufigkeiten von Gender-Unzufriedenheit ausmachen dürfte“, S. 51, und „deutlich seltener“ sind, S. 100.
- Es gibt keine etablierte Methode, um diejenigen zu identifizieren, bei denen die Genderdysphorie langfristig bestehen bleibt. Die Leitlinie räumt ein, dass „empirisch validierte Einzelkriterien für die Feststellung einer dauerhaften Stabilität/Persistenz der Genderinkongruenz bzw. Genderdysphorie nach der von uns gesichteten Studienlage nicht vorliegen“, S. 188.
- Der Einfluss von Gleichaltrigen und die Inhalte sozialer Medien können dazu führen, dass Jugendliche sich selbst als transsexuell bezeichnen. In der Leitlinie wird eingeräumt, dass eine vorgehende Gender-Unzufriedenheit „in Verbindung mit weiteren psychopathologischen Auffälligkeiten sowie mit Einflüssen aus Peer-Group oder sozialen Medien möglicherweise zu einer vorübergehenden Selbstbeschreibung von jungen Menschen als trans führen“ kann, S. 100.
- Der mit der Inkongruenz verbundene Leidensdruck wird als Voraussetzung für medizinische Interventionen gefordert. Obwohl die Leitlinie feststellt, dass die ICD-11-Diagnose „Genderinkongruenz“ (ICD-11 hat das Kriterium „Leidensdruck“ gestrichen) ein ausreichendes Ergebnis der Einschätzung ist und die Doppeldiagnose DSM-5 „Genderdysphorie“ (die das Vorhandensein von Leidensdruck voraussetzt) unnötig ist (S. 184), ist das Vorhandensein von begleitendem Leidensdruck Voraussetzung für medizinische und chirurgische Eingriffe.
- Jugendliche mit vorübergehender Transgender-Identifikation sollten sich keiner medizinischen Transition unterziehen. Die Leitlinie betont, dass eine vorübergehende Selbstbeschreibung als trans „von der spezifischen und deutlich selteneren Konstellation einer persistierenden Genderinkongruenz mit genderdysphorischem Leidensdruck“ abgegrenzt werden muss“, S. 100. Die 3 zentralen Empfehlungen für die Einführung von Pubertätsblockern, Cross-Sex-Hormonen und Brustoperationen (Empfehlungen VII.K3, VII.K14, VII.K25) beschränken diese Interventionen ausdrücklich auf Fälle, die als stabil oder persistent bewertet werden.
► Unzufriedenheit mit dem Gender/Geschlecht
Leider wird die zentrale Annahme der Leitlinie, dass „Unzufriedenheit mit dem Gender/Geschlecht“ und „stabiler/persistierender“ Gender-Leidensdruck sich gegenseitig ausschließen, durch die Fakten widerlegt. Der Begriff „gender non-contenedness“ (Unzufriedenheit mit dem Gender/Geschlecht) wurde im Anschluss an eine wichtige Veröffentlichung von Rawee u. a. aus dem Jahr 2023 populär, die in der Leitlinie diskutiert wird (S. 50). In dieser Studie wurde festgestellt, dass die Unzufriedenheit mit dem Gender/Geschlecht im Kindes- und Jugendalter häufig vorkommt und sich in den allermeisten Fällen bis zum frühen Erwachsenenalter von selbst auflöst.
Insbesondere klassifizierten Rawee u. a. Personen, die „unzufrieden mit ihrem Gender/Geschlecht“ sind, auf der Grundlage ihrer positiven Antwort auf die Frage 110 des Fragebogens Youth Self Report/Adult Self Report (YSR/ASR): „Wishes to be the opposite sex.“ Diese Antwort unterscheidet jedoch nicht zwischen Jugendlichen, die lediglich mit ihrem Gender/Geschlecht unzufrieden sind, und solchen, die die klinische Diagnoseschwelle für Genderdysphorie oder Genderinkongruenz erreichen. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Item 110 häufig stellvertretend für die klinische Diagnose selbst verwendet wird, da es ein Schlüsselkriterium erfasst: den Wunsch, das andere Geschlecht zu sein. In einer Studie aus dem Jahr 2025, in der Jugendliche untersucht wurden, die eine Gender-Klinik in Deutschland besuchten, wurde dieses Instrument zur Bestimmung des Alters verwendet, in dem die Genderdysphorie auftrat. Während Rawee u. a. zeigten, dass die Mehrheit der Jugendlichen mit „Genderinkongruenz“ sich schließlich mit ihrem Gender/Geschlecht versöhnt, wünschten sich etwa 2 % der Befragten im Alter von 22 Jahren immer noch das andere Gender/Geschlecht, was unterstreicht, dass „Genderinkongruenz“ mit „stabiler/anhaltender“ Genderdysphorie/-inkongruenz koexistieren kann und sich die beiden Merkmale nicht gegenseitig ausschließen.
In der Leitlinie wird nicht erklärt, wie Kliniker langanhaltende „Gender-Unzufriedenheit“ von „stabilen/anhaltenden“ Fällen von Genderinkongruenz unterscheiden sollen, zumal diese beiden Kategorien, wie an mehreren Stellen erwähnt, sehr ähnlich aussehen können. Stattdessen wird in der Leitlinie der Zirkelschluss gezogen, dass Fälle, die mit der DSM-Diagnose „Genderdysphorie“ oder der ICD-11-Diagnose „Genderinkongruenz“ diagnostiziert werden, per definitionem „stabil/anhaltend“ sind. Dieser Ansatz ist jedoch nicht stichhaltig, da die DSM-Diagnose der Genderdysphorie bei Jugendlichen für eine 6-monatige Dauer der Symptome erfordert, während die ICD-11-Diagnose der Genderinkongruenz bei Jugendlichen gar kein Kriterium für die Mindestdauer enthält.
Darüber hinaus ignoriert die Leitlinie mehrere Studien – darunter auch eine aus Deutschland -, die gezeigt haben, dass die diagnostische Stabilität von genderbezogenen Diagnosen bei Jugendlichen sehr gering ist. Die deutsche Studie aus dem Jahr 2024 ergab, dass nach 5 Jahren nur 36,4 % der Jugendlichen eine genderbezogene Diagnose in ihrer Krankenakte beibehielten, wobei weibliche Jugendliche im Alter von 15–19 Jahren die niedrigste Persistenzrate (27,3 %) aufwiesen. Eine andere Studie aus dem Jahr 2023, die im BMJ veröffentlicht wurde, kam zu einem ähnlichen Ergebnis und stellte fest, dass Genderdysphorie bei Jugendlichen keine dauerhafte Diagnose ist.
Zusammenfassend stellt die Leitlinie zutreffend fest, dass nur ein „kleiner Bruchteil“ (S. 51) der Jugendlichen, die Item 110 – „Wunsch, das andere Geschlecht zu sein“ – bestätigen, bis zum frühen Erwachsenenalter eine stabile/anhaltende Genderinkongruenz entwickeln; sie raten vernünftigerweise, dass nur diejenigen mit stabilem/anhaltendem Leidensdruck Kandidaten für eine medizinische Transition sein sollten; und sie erkennen korrekt an, dass es keine Möglichkeit gibt, vorherzusagen, welche jungen Menschen langfristig transidentifiziert bleiben werden.
Nach ihrer eigenen Logik hätte die Leitlinie daher empfehlen müssen, das Vorsorgeprinzip anzuwenden – d. h. Jugendliche, die sich als transident erweisen, mit nicht invasiven Behandlungen wie Psychotherapie zu behandeln – und die medizinische Transition dem Erwachsenenalter vorzubehalten, wenn klarer ist, ob die Notlage wahrscheinlich lang anhaltend oder sogar dauerhaft sein wird. Stattdessen empfiehlt die Leitlinie den Zugang zu Pubertätsblockern, Cross-Sex-Hormonen und chirurgischen Eingriffen für Minderjährige, die eine Transgender-Identität geltend machen, ohne zu erläutern, wie auf die in der Diskussion geäußerten Bedenken hinsichtlich der Unbeständigkeit solcher Identitäten im Jugendalter eingegangen werden soll.
Außerdem sollten Jugendliche, die sich als nicht-binär identifizieren, keine Pubertätsblocker erhalten ([benötigen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen eine pubertätsblockierende Behandlung, S. 192]) und dürfen sich vor dem 18. Lebensjahr keiner Brustoperation unterziehen [Dennoch kann derzeit für Jugendliche mit nicht-binärer Identität unter 18 Jahren keine Leitlinienempfehlung für brustchirurgische Eingriffe gegeben werden, S. 229]. Die Haltung der Leitlinie zu Cross-Sex-Hormonen für nicht-binäre Jugendliche ist unklar.
In den Behandlungsempfehlungen werden andere wichtige Punkte anerkannt, darunter die folgenden:
- Die meisten Kinder, die mit Pubertätsblockern behandelt werden, fahren mit der medizinischen Transition fort. Die Leitlinie erkennt an, dass „Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen, die eine Pubertätsblockade erhalten, ihre Transition später mit einer geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung fortsetzen“, S. 163.
- Unfruchtbarkeit wird als eine bestimmte Nebenwirkung des Behandlungsprotokolls anerkannt. In der Leitlinie wird darauf hingewiesen, dass die Einführung von Pubertätsblockern im Tanner-Stadium 2, gefolgt von Cross-Sex-Hormonen, in der Regel zu Unfruchtbarkeit führt („Erfolgt eine Pubertätssupression mittels GnRH-Analoga in einem frühen Pubertätsstadium, ist im Falle einer sich später nahtlos anschließenden geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung meist eine dauerhafte Infertilität aufgrund ausbleibender Ausreifung der Gonaden und des Reproduktionstrakts die Folge“ S. 243).
- Reue oder Abkehr werden ausdrücklich als mögliche Folgen anerkannt. Es wird klar anerkannt, dass ein Teil der Jugendlichen ihre medizinischen Eingriffe bereut. In der Leitlinie wird die Bedeutung der Wahrung des „Rechts des Kindes auf eine offene Zukunft“ erörtert (S. 63, 285). Das deutsche Grundgesetz schützt ausdrücklich das objektive Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. In der Leitlinie werden jedoch auch subjektive Rechte wie Lebensqualität und Leidensminderung hervorgehoben, wobei nicht klar ist, wie diese beiden Rechte miteinander in Einklang gebracht werden können.
Trotz dieser Änderungen erlaubt die Leitlinie tatsächlich eine breite Anwendung der Gender-Transition auf alle Minderjährigen, solange sie angeben, durch gegengeschlechtliche Identitäten belastet zu sein. Im Folgenden werden die Empfehlungen zur sozialen Transition, zu Pubertätsblockern, Cross-Sex-Hormonen und zur Operation zusammengefasst.
► Soziale Transition
In der Leitlinie wird die soziale Transition (Sozialer Rollenwechsel) bei präpubertären Kindern als vorteilhaft und risikoarm dargestellt, obwohl in der endgültigen Fassung die Empfehlung verstärkt wurde, die Eltern über die Möglichkeit einer späteren Detransition zu informieren.
Die Evidenz, die zur Unterstützung der sozialen Transition angeführt wird, wird jedoch nicht nach bewährten Verfahren bewertet: Sie wird nicht systematisch durchsucht, die Studien werden nicht auf das Risiko einer Verzerrung geprüft, und die Evidenz wird nicht nach GRADE auf ihre Sicherheit hin bewertet. Infolgedessen stützt sich die Leitlinie auf eine verzerrte Evidenzbasis und bevorzugte Evidenz, die die soziale Transition zu unterstützen scheint, während Evidenz, die diesem Ansatz widerspricht, ignoriert wird.
- In der Diskussion wird eine amerikanische Studie von Olson u. a. (2022) als positiver Beweis dafür angeführt, dass eine frühe soziale Transition aufgrund der hohen Rate der fortgesetzten gegengeschlechtlichen Identifizierung von sozial transitionierten Minderjährigen eine sichere Praxis ist. Die Autoren versäumen es, eine alternative Erklärung für die Studienergebnisse zu diskutieren – dass nämlich eine frühe soziale Transition selbst eine Transgender-Identität verstärken könnte.
- Die Leitlinie übersieht völlig eine wichtige deutsche Studie von Sievert u. a. (2021), die im Widerspruch zu der in der Leitlinie vertretenen Ansicht steht, dass soziale Transition von Vorteil ist. Diese Studie fand heraus, dass „nicht der Status der sozialen Transition, sondern die Beziehungen zu Gleichaltrigen und das Funktionieren der Familie das psychologische Funktionieren in einer deutschen klinischen Stichprobe von Kindern mit GD vorhersagen.“
- Wir verweisen die Leser auf die systematische Übersichtsarbeit von York zur sozialen Transition, in der die Belege für den psychologischen Nutzen der sozialen Transition durchweg fehlen – ein Befund, mit dem sich die Leitlinie nicht angemessen auseinandergesetzt hat.
► Pubertätsblocker
In der Leitlinie werden bedeutende Unsicherheiten in Bezug auf Pubertätsblocker, einschließlich der Risiken und langfristiger Auswirkungen, eingeräumt, insbesondere Folgendes:
- Der Beginn der Behandlung im Tanner-Stadium 2 kann zur Sterilität führen (S. 243).
- Pubertätsblocker haben negative Auswirkungen auf die Knochengesundheit: („Gemeinsam ist den Studien, dass eine statistisch signifikante Abnahme der absoluten Knochendichte nach erfolgter Pubertätsblockade zu beobachten war“, S. 247).
- Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen, die mit Pubertätsblockern beginnen, geht zu Cross-Sex-Hormonen über (S. 163).
Die Behandlung mit Pubertätsblockern wird jedoch als insgesamt vorteilhaft und als vollständig reversibel beschrieben. Die zur Untermauerung dieser Position angeführten Belege werden nicht nach bewährten Verfahren bewertet: Sie werden nicht systematisch durchsucht, die Studien werden nicht auf das Risiko einer Verzerrung geprüft, und die Belege werden nicht nach GRADE auf ihre Sicherheit hin bewertet. Infolgedessen stützt sich die Leitlinie auf eine verzerrte Evidenzbasis und bevorzugte Evidenz, die für Pubertätsblocker spricht, während Evidenz, die diesem Ansatz widerspricht, ignoriert wird.
- In der Leitlinie werden Studien wie die von de Vries (2011) positiv beschrieben, obwohl deren starke Einschränkungen bekannt sind.
- Die Leitlinie übersieht neuere Studien, die den Nutzen von Pubertätsblockern infrage stellen, wie Carmichael u. a. (2021) und McPherson & Freedman (2023). Diese Studien stützen nicht die Annahme, dass eine Pubertätsblockade vorteilhaft ist, und stellen die Möglichkeit in den Raum, dass bis zu einem Drittel der Kinder während der Einnahme von Pubertätsblockern eine psychische Verschlechterung erfahren könnten.
- Wir verweisen auf systematische Literaturübersichten, darunter NICE 2020 zu Pubertätsblockern, Zepf 2024, York 2024 zu Pubertätsblockern und McMaster 2025 zu Pubertätsblockern, die einheitlich zu dem Schluss kommen, dass die Beweise für den psychologischen Nutzen von Pubertätsblockern von sehr geringer Sicherheit sind – ein Ergebnis, mit dem sich die Leitlinie nicht angemessen auseinandergesetzt hat.
► Cross-Sex-Hormone – Gegengeschlechtliche Hormone
Die Leitlinie betont, dass gegengeschlechtliche Hormone**) (CSH) nur dann eingesetzt werden sollten, wenn Jugendliche eine stabile, anhaltende Genderinkongruenz aufweisen, die über mehrere Jahre nach Beginn der Pubertät andauert. In der Leitlinie werden mehrere Risiken von Cross-Sex-Hormonen genannt, darunter:
- Erhebliches Risiko einer Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit
- Erhöhtes Thromboserisiko
- Problematische Veränderungen des BMI, die zukünftige Gesundheitsrisiken erhöhen können
Trotz dieser Risiken und Ungewissheiten werden CSH als nützlich empfohlen. Die zur Untermauerung dieser Position angeführten Belege werden nicht nach bewährten Verfahren bewertet: Sie werden nicht systematisch durchsucht, die Studien werden nicht auf das Risiko einer Verzerrung geprüft, und die Belege werden nicht nach der GRADE-Methode auf Sicherheit geprüft. Infolgedessen stützte sich die Leitlinie auf eine verzerrte Evidenzbasis und bevorzugte Evidenz, die Cross-Sex-Hormone zu unterstützen scheint, während Evidenz ignoriert wird, die diesem Ansatz widerspricht.
Um 2 Beispiele von vielen zu nennen, bei denen bedeutende Mängel in Studien übersehen werden: Es werden Arbeiten von Tordoff u. a., 2022 und Chen u. a., 2023 zitiert.
Die Leitlinie verweist positiv auf Tordoff u. a., 2022, die von einer deutlichen Verbesserung der psychischen Gesundheit nach der Verabreichung von endokrinen Interventionen bei Genderdysphorie berichten. Sie erwähnen jedoch nicht die bekannten und tiefgreifenden methodischen Einschränkungen dieser Studie, einschließlich der Tatsache, dass die Depressionsraten trotz der Behauptungen der Studie vor und nach der Behandlung unverändert blieben. Außerdem verloren Tordoff u. a. bis zum Ende der Studie bemerkenswerte 80 % ihrer unbehandelten Teilnehmer, die als „Kontrollgruppe“ dienten, was die Schlussfolgerungen der Studie völlig entkräftete.
Chen u. a. 2023 werden zitiert, wonach 2 Jahre nach Beginn der Hormonbehandlung weniger Angstzustände und Depressionen auftraten und die behandelte Gruppe eine höhere Lebenszufriedenheit berichtete. Die Leitlinie versäumt es jedoch, auf die zahlreichen methodischen Probleme der Studie einzugehen. Sie erwähnen auch nicht, dass die biologischen Männer keine Verbesserungen erfuhren, und sie übersehen die inakzeptabel hohe Zahl von Selbstmorden, die tragischerweise innerhalb der Teilnehmergruppe innerhalb nur eines Jahres nach Beginn der Behandlung stattfanden.
Wir verweisen auf systematische Übersichten der Literatur, darunter NICE 2020 zu CSH, Schweden 2023, Zepf 2024, York 2024 zu CSH, McMaster 2025 zu CSH, die einheitlich zu dem Schluss kommen, dass die Beweise für den psychologischen Nutzen von CSH von sehr geringer Sicherheit sind – ein Ergebnis, mit dem sich die Leitlinie nicht angemessen auseinandersetzt. Wir stellen fest, dass die Leitlinie die Ergebnisse der britischen NICE-Reviews fälschlicherweise als Belege für den Nutzen von CSH-Behandlungen darstellt. Stattdessen wurde in den NICE-Reviews des Vereinigten Königreichs hervorgehoben, dass die Evidenz für die Anwendung von CSH bei Jugendlichen sehr gering ist.
► Chirurgische Maßnahmen
Die Empfehlungen der Leitlinien für „gender-affirmative“ Operationen für Personen unter 18 Jahren beschränken sich auf Mastektomien oder chirurgische Brustverkleinerungen; genitale Operationen werden vor dem 18. Lebensjahr nicht empfohlen. Wie bei der CSH müssen die Jugendlichen eine stabile/anhaltende Genderinkongruenz über mehrere Jahre aufweisen („dauerhaft persistierende Genderinkongruenz nach einer vollständig vollzogenen Transition bereits seit mehreren Jahren“) und einen bedeutenden körperbezogenen Leidensdruck haben („ausgeprägtem genderdysphorischem Leidensdruck und entsprechendem Behandlungswunsch“, S. 224).
Die Leitlinie erkennt die Risiken irreversibler Eingriffe wie der Mastektomie bei Minderjährigen an und enthält eine neue Empfehlung (VII.K25a) zur Dokumentation der Nutzen-Risiko-Abwägung zwischen der Durchführung von Mastektomien vor dem 18. Lebensjahr. Trotz dieser Anerkennung sind Mastektomien ohne Angabe eines Mindestalters und mit nur minimalen Schutzmaßnahmen erlaubt.
- Die Leitlinie schreibt ausdrücklich keine vorherige Hormontherapie oder Psychotherapie als Voraussetzung
- Obwohl eine Risiko-Nutzen-Abwägung empfohlen wird, wird eine umfassende Einschätzung der psychischen Gesundheit empfohlen, aber nicht vorgeschrieben. Darüber hinaus wird kein Nachweis über eine angemessene Behandlung psychischer Erkrankungen verlangt, die gleichzeitig auftreten.
- Die Empfehlung eines 6-monatigen Abstandes nach Beginn einer Hormonbehandlung, die im Entwurf vom März 2024 noch enthalten war, wurde gestrichen. Außerdem dürfen nun auch bei Jugendlichen, die noch nicht mit einer Testosteronbehandlung begonnen haben, Mastektomien durchgeführt werden.
Wie bei der Kritik an anderen „gender-affirmativen“ Behandlungen, die in der Leitlinie empfohlen werden, werden die Belege, die zur Unterstützung der Brustchirurgie bei Minderjährigen angeführt werden, nicht nach bewährten Verfahren bewertet: Sie werden nicht systematisch durchsucht, die Studien werden nicht auf das Risiko einer Verzerrung geprüft, und die Belege werden nicht nach GRADE auf ihre Sicherheit hin bewertet.
Infolgedessen stützt sich die Leitlinie auf eine verzerrte Evidenzbasis (sie zitieren nur 4 Studien mit jungen Menschen, die eine Mastektomie erhielten oder dies wünschten) und beschreibt die Ergebnisse als unterstützend für die Operation – trotz der bedeutenden Probleme in den Studien. In der Leitlinie wird auch eine neuere systematische Überprüfung der Evidenz ignoriert, die zu einem deutlich anderen Ergebnis kommt: sehr geringe Sicherheit des Nutzens und hohe Sicherheit des Schadens.
- Die 4 zitierten Studien werden trotz ihres kritischen Verzerrungsrisikos als positiv dargestellt (was offensichtlich wäre, wenn die Studien einer Bewertung des Verzerrungsrisikos unterzogen worden wären, wie dies in einer kürzlich durchgeführten systematischen Überprüfung geschehen ist).
- Im Gegensatz zu dieser positiven Bewertung von Mastektomien bei Minderjährigen verweisen wir auf eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2024, in der Studien über Mastektomien bei jungen Menschen mit Genderdysphorie ausgewertet wurden. Diese systematische Übersichtsarbeit ergab, dass alle Studien, die Lebensqualität, Depression, Körperzufriedenheit und Brustzufriedenheit bewerteten, von geringer bis sehr geringer Sicherheit waren, während die Beweise für Schäden von hoher Sicherheit sind.
Die Tatsache, dass nicht nachgewiesen werden konnte, dass Mastektomien bei Minderjährigen zu positiven Ergebnissen führen, und die Gewissheit, dass sie Schaden anrichten, sind Gründe dafür, einen Aufschub der Operation bis zur Volljährigkeit in Erwägung zu ziehen, was in weiten Teilen Europas (z. B. im Vereinigten Königreich, in Finnland und Schweden) ein üblicherer Zeitpunkt für solche Eingriffe ist.
3 – Anzeichen von Voreingenommenheit und anderen Unregelmäßigkeiten
Starke Abhängigkeit von den Positionen der WPATH
In der endgültigen Fassung heißt es, dass die Mitglieder der Leitliniengruppe „überwiegend die Auffassungen der aktuellen internationalen Leitlinien der Endocrine Society (Hembree u. a., 2017) und der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) (Coleman u. a., 2022)“ teilen, S. 239. Zu den Gesellschaften, die mit dieser Position oder dem Abschlussdokument nicht einverstanden waren, gehören die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin und Sexualpsychologie (DGSMTW; jetzt Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention, DGSMP) und die Deutsche Gesellschaft für Urologie (GDU), Leitlinienreport, S. 3, 28.
Die Abhängigkeit von WPATH ist offensichtlich. Die Versorgungsstandards von WPATH, Version 8 (SOC8), werden über 45 Mal zitiert. Tatsächlich folgen einige Passagen der Leitlinien SOC8 so genau, dass Bedenken hinsichtlich des Qualitätsmanagements des Dokuments und der Frage aufkommen, ob es „den höchstmöglichen wissenschaftlichen Standards“ entspricht, wie es die AWMF erwartet (AWMF-Regelwerk, S. 5). Wir laden die Leser ein, etwa die Seiten 8–11 der deutschen Leitlinien mit den Seiten 23–25 von SOC8 in Tabelle 1 am Ende dieses Beitrags zu vergleichen. Ein Teil des Textes aus dieser Tabelle wird auch hier (in der englischen Variante) wiedergegeben: Gelbe Hervorhebungen zeigen ähnlichen Text an und blaue Hervorhebungen zeigen ein Zitat an, das in beiden Texten in identischer Reihenfolge erscheint (in der Leitlinie ist dies jedes Zitat). Rote Hervorhebungen zeigen einen Fehler in der Leitlinie an. Linke Spalte – Text aus der S2k-Leitlinie, rechte Spalte – Text aus WPATH SOC8:
Weitere Belege für Interessenkonflikte und fragwürdige Handhabung von Interessenkonflikten
Es gibt zahlreiche weitere offensichtliche Interessenkonflikte, darunter:
- Die meisten Autoren sind in erheblichem Maße klinisch oder wissenschaftlich an der Förderung der Praxis der Transition beteiligt (Leitlinienreport, Anhang E)
- Der Leiter der Leitlinien-Kommission, Dr. Georg Romer, leitet eine pädiatrische Gender-Klinik und kandidiert für die Position des Direktors bei WPATHs europäischem Zweig EPATH.
- Ein weiteres Mitglied, Richter-Unruh, hatte 10 Jahre lang (2013–2023) eine Universitätsposition inne, die von Ferring Pharmaceuticals, einem Schweizer Unternehmen, das Pubertätsblocker herstellt und vermarktet, gestiftet wurde. Sie leitet jetzt EMPOWER-TRANS*, eine digitale Plattform, die darauf abzielt, Informationen für Transgender-Kinder und -Jugendliche bereitzustellen, um persönliche Termine zu optimieren und mehr Minderjährige zu betreuen. Diese Initiative wird in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Trans* und dem Trans*-Kinder-Netz (TraKiNe) durchgeführt, zwei Interessenvertretungen, die ebenfalls zum Inhalt der Leitlinien beigetragen und diesen beeinflusst haben. Das Projekt wird mit 4,9 Millionen Euro aus der Gesetzlichen Krankenversicherung finanziert, diese Finanzierung wurde jedoch nicht angegeben.
COIs sind in diesem Bereich der Medizin weitverbreitet und oft unvermeidbar. Die AWMF empfiehlt zwar, dass der COI-Prozess am besten von einer dritten Partei bewertet wird, schreibt dies jedoch nicht vor (AWMF-Regelwerk, S. 29). Angesichts der oben identifizierten bedeutenden COIs wäre es jedoch klüger gewesen, ein Best-Practice-Protokoll zu befolgen und eine dritte Partei mit der Bewertung dieser Konflikte zu beauftragen. Allem Anschein nach werfen die aktuellen COIs, einschließlich der nicht offengelegten Probleme, Fragen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des COI-Managementprozesses auf.
Voreingenommene Bewertung des Cass Review
Das Versäumnis der Leitliniengruppe, sich unparteiisch und objektiv mit den Beweisen auseinanderzusetzen, zeigt sich in der Bewertung des Cass Review in der Leitlinie: eine 4-jährige solide Evaluierung der Jugend-Gender-Medizin im Vereinigten Königreich.
Die Leitlinie stützt ihre scharfe Kritik an der Cass Review auf die weitgehend diskreditierte, nicht von Fachkollegen überprüfte „Yale“-Analyse, die von einer stark konfliktbehafteten Gruppe amerikanischer Aktivisten für juristische Zwecke verfasst wurde. Die Leitlinie beging außerdem den Fehler, das Cass Review fälschlicherweise anhand von Kriterien zu bewerten, die zur Beurteilung von Leitlinien für die klinische Praxis (Clinical Practice Guidelines, CPGs) und nicht von unabhängigen Überprüfungen gedacht sind. Dieser grundlegende Kategorienfehler – die Verwechslung der Cass Review mit einer CPG – macht ihre Kritik ungültig.
Unter den vielen fehlgeleiteten Kritikpunkten am Cass Review scheint die Leitlinie das Cass Review dafür zu tadeln, dass es nicht ausreichend bevölkerungsrepräsentative Daten einbezieht (S. 14), und widmen sich anschließend auf mehreren Seiten der Erörterung transgenderbezogener Fragen aus der britischen Volkszählung von 2021. Die Leitliniengruppe scheint jedoch nicht zu wissen, dass das britische Amt für nationale Statistik ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass die Antworten auf diese spezielle Volkszählungsfrage nicht als anerkannte offizielle Statistiken betrachtet werden sollten. Dies wurde in einem in einer begutachteten Fachzeitschrift veröffentlichten Forschungsbericht erläutert.
Weitere Unregelmäßigkeiten
Das wichtigste Dokument, das zur Untermauerung der Rechtsauffassungen der Leitlinien zur Einwilligung von Kindern und Jugendlichen herangezogen wird –
Darüber hinaus scheint der „Anhang – Divergierende nationale Empfehlungen“ ab Seite 319 in der Version der Leitlinien, die einigen medizinischen Fachgesellschaften zur endgültigen Abstimmung vorgelegt wurde, gefehlt zu haben. Dieser Anhang, der in der veröffentlichten Endversion enthalten ist, wurde im Entwurf der Leitlinien mindestens 6-mal erwähnt. Sollte dies zutreffen, würde das Weglassen dieses wichtigen Anhangs (der auch die Kritik von Cass Review enthielt) in der von den medizinischen Fachgesellschaften angenommenen Version neue Zweifel an der Gültigkeit der Leitlinie aufkommen lassen. (Die Richtigkeit dieser Behauptung sollte von den Vorständen der medizinischen Fachgesellschaften, die über die Leitlinie abgestimmt haben, überprüft werden, da SEGM keinen vollständigen Einblick in den Prozess hat.)
Im Leitlinienreport wird darauf hingewiesen, dass allen teilnehmenden Fachgesellschaften nur ein Zeitfenster von 4 Wochen für die Abgabe von Kommentaren eingeräumt wurde: Für ein so umfangreiches und komplexes Dokument war diese Zeitspanne unzureichend, was dazu führte, dass das Dokument nicht ordnungsgemäß geprüft werden konnte. Selbst in diesem begrenzten Zeitrahmen gelang es 15 Mitgliedern der DGKJP, eine 111-seitige Kritik der Leitlinie einzureichen.
4 – Methodische Bedenken
Die überwiegende Mehrheit der methodischen Bedenken, die von der SEGM im vergangenen Jahr als Reaktion auf den früheren Entwurf der Leitlinie dargelegt wurden, wurde nicht berücksichtigt. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Empfehlungen teilweise auf selektiv ausgewählten Einzelstudien aus WPATHs SOC8 beruhten, anstatt auf einer unabhängigen systematischen Evidenzprüfung (WPATH unterdrückte später die Veröffentlichung seiner eigenen systematischen Evidenzprüfungen).
Während die Abhängigkeit von der WPATH-Beweisbewertung im vorherigen Entwurf der Leitlinie transparent dargestellt wurde, wird diese Tatsache in der endgültigen Fassung heruntergespielt, wahrscheinlich als Reaktion auf das wachsende Bewusstsein für Probleme bezüglich der Unterdrückung von Beweisen durch WPATH. In der endgültigen angenommenen Fassung wurden nun 3 aktuelle systematische Überprüfungen von Beweisen hinzugefügt (Leitlinienreport, S. 22). Es ist jedoch offensichtlich, dass die Existenz dieser systematischen Überprüfungen zwar anerkannt wurde, die darin enthaltenen Informationen jedoch nicht zur Beeinflussung der Empfehlungen verwendet wurden.
Ein aufschlussreiches Beispiel für diese Diskrepanz zwischen den in der Leitlinie zitierten systematischen Übersichtsarbeiten und den formellen Empfehlungen ist die Evidenzaussage VII.E1. Diese spezielle Aussage ist besonders wichtig, da sie mehrere der klinisch bedeutendsten Empfehlungen in Kapitel 7 untermauert.
Diese Aussage (siehe unten) besagt, dass Pubertätsblocker, Cross-Sex-Hormone und Operationen zu langfristigen Verbesserungen der psychischen Gesundheit und der Lebensqualität führen (S. 156). Dieser Aussage folgt jedoch ein Verweis auf 3 einzelne Studien und nicht auf systematische Evidenzbewertungen, wie es in einer evidenzbasierten Leitlinie zu erwarten wäre. Bemerkenswerterweise wurden diese Studien – die aus der niederländischen Gender-Klinik stammen – in der von Experten begutachteten Literatur alle einer substanziellen methodischen Kritik unterzogen.
Im Gegensatz zu der positiven Bewertung der Ergebnisse von Pubertätsblockern, Cross-Sex-Hormonen und Operationen in diesen 3 Studien kommen alle systematischen Übersichtsarbeiten, einschließlich der in der Leitlinie genannten, zu dem Schluss, dass die Evidenz von „geringer“ oder sogar „sehr geringer Sicherheit“ ist. In der GRADE-Terminologie bedeutet dies, dass die in den Studien berichteten Ergebnisse unwahrscheinlich der Wahrheit entsprechen. Hätten die Autoren diese systematischen Überprüfungen angemessen berücksichtigt, hätte die Evidenzaussage VII.E1, die die Vorteile bestätigt, nicht getroffen werden können.
Wir stellen außerdem fest, dass in dem zuvor veröffentlichten Entwurf die Evidenzaussage VII.E1 den niedrigsten Konsens aller Evidenzaussagen aufwies (75 %). Unerklärlicherweise fehlt in der endgültig veröffentlichten Version jeglicher Hinweis auf das Konsensniveau für diese Aussage – und laut unserer Analyse ist dies die einzige Aussage in der gesamten Leitlinie, bei der ein aufgelisteter Prozentsatz des Konsenses fehlt, was eine Voraussetzung für die Zertifizierung nach S2k AWMF-Level ist. Medienberichten zufolge war diese Aussage eine besondere Streitquelle im Rahmen des Konsensverfahrens, wobei die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (DGPPN) eine vollständige Streichung wünschte (Anhang A, S. 25).
5 - Deutsche und internationale Kritik
Als der Entwurf der Leitlinie im März 2024 veröffentlicht wurde, stieß sie sofort auf heftige Kritik im In- und Ausland, einschließlich der ausdrücklichen Ablehnung durch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft (DGSMSP). Die Präambel in den endgültigen Leitlinien wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutschlands größter wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaft mit Schwerpunkt auf psychischer Gesundheit, in ihrer Gesamtheit abgelehnt (Leitlinienreport, S. 24).
Nach den oben beschriebenen Aktualisierungen der Leitlinie entschieden sich die meisten Gesellschaften dafür, sie zu akzeptieren, aber zwei – die Deutsche Gesellschaft für Urologie und die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin und Sexualpsychologie (DGSMP) – lehnten sie rundheraus ab. Andere, darunter die DGPPN und mehrere prominente Professoren der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), äußerten Vorbehalte. Darüber hinaus gaben mehrere Gesellschaften alternative oder spezielle Empfehlungen innerhalb der Leitlinie ab, die im Anhang A der Leitlinie aufgeführt sind.
Überdies konnte die Schweiz die Leitlinie zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Dokuments nicht billigen, da viele Mitglieder nicht in der Lage waren, sich sinnvoll zu beteiligen, da das Dokument nur auf Deutsch und nicht in den beiden anderen Amtssprachen der Schweiz, Französisch und Italienisch, verbreitet wurde. Die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte jedoch Vorbehalte äußern (siehe Leitlinienreport, Anhang F.). Die Schweiz scheint die Empfehlungen der Leitlinien einer zusätzlichen Überprüfung zu unterziehen, nachdem Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Leitlinien geäußert wurden.
SEGM take-away
Die Anerkennung der deutschen Leitlinien, dass die meisten Jugendlichen, die sich in einer genderbezogenen Notlage befinden, keine medizinische Transition durchlaufen sollten, ist eine willkommene Anerkennung der Realität, die in der westlichen Welt zunehmend geteilt wird. Dies stellt die Praxis jedoch vor ein Rätsel. Ohne eine klare, prospektive Methode zur Unterscheidung zwischen „Unzufriedenheit mit dem Gender/Geschlecht“, die laut der Leitlinie nicht mit einer Transition behandelt werden sollte, und „stabiler/anhaltender“ Genderinkongruenz, die laut der Leitlinie sicher medizinisch transitioniert werden kann, ist die vernünftigste und vorsichtigste Annahme für Mediziner, dass die meisten jungen Menschen, die mit genderdysphorischen oder genderinkongruenten Symptomen vorstellig werden, eher in die Kategorie „vorübergehend“ als in die Kategorie „stabil/anhaltend“ fallen. Stattdessen schafft die Leitlinie einen Weg für anhaltende Gender-Transitionen für die Mehrheit der Jugendlichen, die dies wünschen.
Deutschland steht mit diesem Dilemma nicht allein da, und die Veröffentlichung dieser Leitlinie veranschaulicht den Zustand der Verwirrung, in dem sich die Gender-Medizin in der gesamten westlichen Welt befindet.
Einerseits wird inzwischen von gutgläubigen Akteuren, darunter auch einigen, die Jugend-Gender-Medizin praktizieren, weithin anerkannt, dass die besten verfügbaren Erkenntnisse die Behauptungen über die psychologischen Vorteile „gender-affirmativer“ Praktiken nicht stützen. Es wird auch zunehmend anerkannt, dass diese Eingriffe vielen jungen Menschen direkten Schaden zufügen, eine Tatsache, die immer schwieriger zu ignorieren ist.
Andererseits bestehen die Befürworter dieser Praktiken weiterhin darauf, dass die Gender-Transition bei Jugendlichen fortgesetzt werden sollte – solange die Ärzte „Vorsicht“ walten lassen und in „multidisziplinären“ Teams arbeiten. Es gibt jedoch kaum praktische Hinweise darauf, was diese „Vorsicht“ tatsächlich beinhaltet, sodass „multidisziplinäre“ Teams aus gender-affirmativen Psychologen, Psychiatern und Endokrinologen den Status quo effektiv beibehalten können.
Vor dem Hintergrund einer klaren Anerkennung von Problemen in der Evidenz haben diejenigen, die sich für die Transition von Jugendlichen einsetzen, damit begonnen, neue Leitlinien zu erstellen, die sie als „Konsensleitlinien“ bezeichnen. Diese Bezeichnung ermöglicht es anscheinend, einen strengen Prozess der Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien zu umgehen, und begünstigt stattdessen den veralteten Ansatz, der humorvoll als „GOBSAT“ (Good Old Boys Sat Around the Table) bekannt ist. Allein im vergangenen Jahr haben mehrere Gruppen von gender-affirmativen Klinikern solche Leitlinien veröffentlicht, darunter die ESPE-Richtlinien, die französischen Endokrinologie-Richtlinien, die polnischen Richtlinien und die noch unveröffentlichten französischen HAS-Richtlinien.
Alle diese Leitlinien verstoßen nachweislich gegen die wichtigsten Grundsätze der evidenzbasierten Leitlinienentwicklung. Unterdessen behaupten ihre Autoren, dass sie nicht an diese Standards gebunden sind, weil ihre Leitlinien lediglich auf „Konsens“ basieren.
Es ist schwer vorstellbar, wie sich die Fachrichtung aus ihrem derzeitigen beunruhigenden Zustand befreien kann, ohne zu erkennen, dass das fortgesetzte Vertrauen in „Konsens“-Leitlinien nicht die Lösung ist, sondern selbst das Problem darstellt. Solange es keine gemeinsame Verpflichtung zur Entwicklung echter evidenzbasierter Leitlinien gibt, wird die Jugend-Gender-Medizin tief gespalten bleiben.
Links
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). AWMF-S2k-Leitlinie: Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung (S2k) [im vorliegenden Text als „Leitlinie“ bezeichnet]
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Leitlinienreport, 2025 [in diesem Text als „Leitlinienreport“ bezeichnet]
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland (AWMF) – Ständige Leitlinienkommission. (2023). AWMF-Leitfaden und Regeln für die Leitlinienentwicklung (Version 2.1). Abgerufen am 17. März 2025 [in diesem Text als AWMF-Regelwerk bezeichnet]
Tabelle
Vergleich S2k-Leitlinie (S. 8–11) und WPATH SOC8 (S. 23–26)
Übernahme von Textpassagen aus WPATH SOC8 am Beispiel der Seiten 8-11 der S2k-Leitlinie
Grün – gleicher/ähnlicher Text wie in WPATH SOC8 mit Quellenangabe
Gelb – gleicher/ähnlicher Text wie in WPATH SOC8 ohne Quellenangabe
Blau – alle Quellenangaben
Rot – Fehler in der Richtlinie; die entsprechende rote Farbe in WPATH ist korrekt
Deutsche Leitlinie GI/GD, Seiten 8–11, Originaltext |
WPATH SOC8 2022, Seiten 23–25, ausgewählter Text, Originalreihenfolge, übersetzt |
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In neueren Übersichtsarbeiten werden die verfügbaren Erkenntnisse zusammengefasst (Arcelus et al., 2015; Collin et al., 2016; Goodman et al., 2019; Meier & Labuski, 2013; Zhang et al., 2020). Bei epidemiologischen Daten zur TGD-Population wird empfohlen, die Begriffe Inzidenz und Prävalenz zu vermeiden, wenn sich die Daten nicht ausschließlich auf medizinische Diagnosen oder Behandlungen, sondern auf Selbstauskünfte Befragter beziehen. Zudem soll damit auch die Pathologisierung gender-nonkonformer Personen vermieden werden (Adams et al., 2017; Bouman et al., 2017). |
Seitdem hat sich die Literatur zu diesem Thema erheblich erweitert, wie eine Reihe aktueller Übersichtsarbeiten belegen, die versucht haben, die verfügbaren Beweise zusammenzufassen (Arcelus u. a., 2015; Collin u. a., 2016; Goodman u. a., 2019; Meier & Labuski, 2013; Zhang u. a., 2020). Bei der erneuten Betrachtung epidemiologischer Daten zur TGD-Population ist es möglicherweise am besten, die Begriffe „Inzidenz“ und „Prävalenz“ zu vermeiden. Durch die Vermeidung dieser und ähnlicher Begriffe kann eine unangemessene Pathologisierung von TGD-Betroffenen verhindert werden (Adams u. a., 2017). |
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Stattdessen wird in den Standards of Care (Coleman et al., 2022) empfohlen, die Begriffe Anzahl und Anteil zu verwenden, um jeweils die absolute und relative Größe der so genannten TGD-Population zu bezeichnen. Bei der Bewertung einzelner Studienergebnisse ist es wichtig, auf die Methodik der Erhebung zu achten, insbesondere auf den jeweils gewählten Zugang zu Befragten und die gewählten Falldefinitionen. So divergieren Häufigkeitsangaben erheblich, je nachdem, ob die Daten sich z.B. auf Personen beziehen, die im Gesundheitswesen wegen einer Diagnose entsprechend einer Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie eine medizinische Behandlung in Anspruch genommen haben (Collin et al., 2016; Meier & Labuski, 2013) oder auf Personen, die bei einer bevölkerungsbasierten Befragung eine nonkonforme Geschlechtsidentität angegeben haben. Solche bevölkerungsbasierten Befragungen beruhen auf einer breiter gefassten Definition selbstberichteter Geschlechtsidentitäten und kommen demzufolge zu deutlich höheren Fallzahlen. |
Aus all den oben genannten Gründen empfehlen wir, die Begriffe „Anzahl“ und „Anteil“ zu verwenden, um die absolute und relative Größe der TGD-Bevölkerung zu bezeichnen. Der vielleicht wichtigste Aspekt bei der Durchsicht dieser Literatur ist die variable Definition, die auf die TGD-Bevölkerung angewendet wird (Collin u. a., 2016; Meier & Labuski, 2013). In klinischen Studien beschränken sich die Daten zu TGD-Personen in der Regel auf Personen, die eine genderbezogene Diagnose oder Beratung erhalten haben oder eine gender-affirmative Therapie beantragt oder durchlaufen haben, während sich umfragebasierte Forschung in der Regel auf eine breitere, umfassendere Definition stützt, die auf selbstberichteten Genderidentitäten basiert. |
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Bei einem Großteil der vor mehr als einem Jahrzehnt veröffentlichten Studien wurde die Anzahl der in einem bestimmten klinischen Zentrum behandelten Patient*innen ermittelt und auf eine geschätzte Bevölkerungsgröße des Einzugsgebiets der betreffenden Klinik hochgerechnet, was zu einer erheblichen Unterschätzung der Häufigkeit geführt haben dürfte. Aus diesen Gründen wurden in der Studienübersicht der Standards of Care nur Studien berücksichtigt die seit 2009 veröffentlicht wurden und deren Methodik eine klare Definition des TGD-Status sowie eine exakt definierte Bezugspopulation ausweist (Coleman et al., 2022). Diese werden unterteilt referiert nach
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Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen ist es ratsam, sich speziell auf aktuelle (innerhalb der letzten zehn Jahre veröffentlichte) Peer-Review-Studien zu konzentrieren, die eine solide Methodik zur Identifizierung von Menschen mit TGD innerhalb eines klar definierten Stichprobenrahmens verwendeten. Aus all den oben genannten Gründen konzentriert sich das vorliegende Kapitel auf Studien, die die folgenden Einschlusskriterien erfüllen: 1) sie wurden 2009 oder später veröffentlicht; 2) sie verwendeten eine klare Definition des TGD-Status; 3) sie berechneten die Anteile von TGD-Personen auf der Grundlage eines genau definierten Bevölkerungskennzeichens; und 4) sie wurden von Experten begutachtet. Diese Arten von Studien können genauere, aktuelle Schätzungen liefern. Die verfügbaren Studien lassen sich in drei Gruppen einteilen: 1) Studien, die den Anteil von Menschen mit TGD unter Personen in großen Systemen der Gesundheitsversorgung untersuchten; 2) Studien, die Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen unter überwiegend erwachsenen Teilnehmern präsentierten; und 3) Studien, die auf Umfragen unter Jugendlichen in Schulen basierten. |
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In insgesamt sechs US-amerikanischen Studien wurden Daten aus dem Veterans Health Affairs System ausgewertet, ein Krankenversicherungssystem, das mehr als neun Millionen Menschen versorgt. Der Anteil von transgeschlechtlichen Personen an der Gesamtheit der in diesem System Versicherten wurde basierend auf Leistungsdaten und Diagnosecodes mit 0,02 % bis 0,08 % ermittelt (Blosnich et al., 2013; Dragon et al., 2017; Ewald et al., 2019; Jasuja et al., 2020; Kauth et al., 2014; Quinn et al., 2017). Eine wichtige Limitation dieser Studien war, dass in der Bezugspopulation Personen ab 65 Jahren tendenziell überrepräsentiert waren. |
Alle Studien, die die Größe der TGD-Population in großen Systemen der Gesundheitsversorgung schätzten, wurden in den USA durchgeführt und stützten sich auf Informationen aus elektronischen Patientenakten. Vier dieser auf Gesundheitssystemen basierenden Studien stützten sich ausschließlich auf Diagnosecodes, um die TGD-Population zu ermitteln; zwei Studien (Blosnich u. a., 2013; Kauth u. a., 2014) verwendeten Daten aus dem System der Veterans Health Affairs, das die Versorgung von über 9 Millionen Menschen sicherstellt, und zwei Studien (Dragon u. a., 2017; Ewald u. a., 2019) verwendeten Abrechnungsdaten von Medicare, dem staatlichen Krankenversicherungsprogramm, das in erster Linie Menschen ab 65 Jahren versichert. […] Zusammengenommen zeigen diese Daten, dass bei den auf dem Gesundheitssystem basierenden Studien, die sich auf Diagnosecodes oder andere in den Krankenakten dokumentierte Nachweise stützten (Blosnich u. a., 2013; Dragon u. a., 2017; Ewald u. a., 2019; Kauth u. a., 2014; Quinn u. a., 2017) in den letzten Jahren (2011–2016) gemeldeten Anteile von Menschen mit TGD zwischen 0,02 % und 0,08 % lagen. |
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Im Gegensatz dazu kamen bevölkerungsrepräsentative Studien, die sich auf einen selbstberichteten Transgender-Status stützten, zu wesentlich höheren Fallzahlen: Zwei amerikanische Studien nutzten die Behavioral Risk Factor Surveillance Study (BRFSS), eine jährliche Telefonumfrage, die in allen 50 Bundesstaaten der USA durchgeführt wird (Conron et al., 2012; Crissman et al., 2017). In beiden Studien wird auf Basis unterschiedlicher Jahreserhebungen übereinstimmend berichtet, dass etwa 0,5 % der Teilnehmer*innen ab 18 Jahren die Frage „Betrachten Sie sich selbst als transgender?" mit „Ja" beantworteten. |
Im Gegensatz zu den Ergebnissen aus den auf dem Gesundheitssystem basierenden Studien ergaben die Ergebnisse aus Umfragen, die auf dem selbstberichteten TGD-Status beruhten, viel höhere Schätzungen. Zwei US-Studien nutzten die Behavioral Risk Factor Surveillance Study (BRFSS), eine jährliche Telefonumfrage, die in allen 50 Bundesstaaten und US-Territorien durchgeführt wird (Conron u. a., 2012; Crissman u. a., 2017). Die erste Studie verwendete Daten aus den BRFSS-Zyklen 2007–2009 im Bundesstaat Massachusetts, und die zweite Studie verwendete die BRFSS-Daten von 2014 aus 19 Bundesstaaten und dem Gebiet Guam. Beide Studien berichteten, dass etwa 0,5 % der erwachsenen Teilnehmer (mindestens 18 Jahre alt) die Frage „Halten Sie sich für transgender?“ mit „Ja“ beantworteten." |
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In einer internetbasierten Umfrage, die an einer repräsentativen Stichprobe der niederländischen Bevölkerung im Alter von 15 bis 70 Jahren durchgeführt wurde, gaben 1,1 % der Personen mit bei Geburt zugewiesenem männlichen Geschlecht und 0,8 % der Personen mit bei Geburt zugewiesenem weiblichen Geschlecht an, sich eher mit dem jeweils anderen Geschlecht zu identifizieren (Kuyper & Wijsen, 2014). |
In einer internetbasierten Umfrage, die an einer Stichprobe der niederländischen Bevölkerung im Alter von 15 bis 70 Jahren durchgeführt wurde (Kuyper & Wijsen, 2014), wurden die Teilnehmer gebeten, die folgenden beiden Fragen anhand einer 5-Punkte-Likert-Skala zu bewerten: „Können Sie angeben, inwieweit Sie sich psychologisch als Mann erleben?“ und „Können Sie angeben, inwieweit Sie sich psychologisch als Frau erleben?“ Die Befragten wurden als „geschlechtsambivalent“ eingestuft, wenn sie für beide Aussagen die gleiche Punktzahl angaben, und als „Genderinkongruenz“ wenn sie für ihr bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht eine niedrigere Punktzahl angaben als für ihre Genderidentität. Der Anteil der Teilnehmer, die eine inkongruente und ambivalente Genderidentität angaben, betrug 1,1 % bzw. 4,6 % bei Personen, die bei der Geburt als männlich eingestuft wurden (AMAB), und 0,8 % bzw. 3,2 % bei Personen, die bei der Geburt als weiblich eingestuft wurden (AFAB). |
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In einer methodisch ähnlich angelegten Studie in Belgien, die an einer aus dem Bevölkerungsregister des Landes gezogenen Stichprobe durchgeführt wurde, betrug der Anteil der laut Selbstauskunft sich gender-nonkonform identifizierenden Personen 0,7 % für bei Geburt männlich zugewiesenem Geschlecht und 0,6 % für bei Geburt weiblich zugewiesenem Geschlecht (Van Caenegem et al., 2015). |
In einer ähnlich konzipierten Studie wurde der Anteil der TGD-Bewohner in der belgischen Region Flandern anhand einer Stichprobe aus dem Nationalen Register des Landes geschätzt (Van Caenegem, Wierckx u. a., 2015). Die Teilnehmer wurden gebeten, die folgenden Aussagen auf einer 5-Punkte-Likert-Skala zu bewerten: „Ich fühle mich wie eine Frau“ und „Ich fühle mich wie ein Mann“. Unter Verwendung der gleichen Definitionen wie in der niederländischen Studie (Kuyper & Wijsen, 2014) lag der Anteil der Personen mit inkongruentem Gender bei 0,7 % für AMAB-Personen und 0,6 % für AFAB-Personen. Die entsprechenden Schätzungen für Gender-Ambivalenz bei AMAB- und AFAB-Personen lagen bei 2,2 % bzw. 1,9 %. |
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In einer Studie an ca. 50.000 bevölkerungsrepräsentativ ausgewählten erwachsenen Einwohner*innen der Region Stockholm wurde der Anteil gender-nonkonformer Personen mit differenzierten Fragen zur empfundenen Geschlechtsidentität einschließlich des Wunsches nach köpermodifizierenden medizinischen Behandlungen untersucht (Åhs et al., 2018). Ein „starker Wunsch“ nach einer Hormontherapie oder einer geschlechtsangleichenden Operation wurde von 0,2 % der Befragten beiderlei Geburtsgeschlechts bejaht. Fragen nach geschlechtsinkongruentem Identitätserleben und sozialem Transitionswunsch („Ich fühle mich wie jemand eines anderen Geschlechts" und „Ich möchte als jemand eines anderen Geschlechts leben und behandelt werden") wurden hingegen von 0,8 % bis 1,2 % der Befragten bejaht. Dies ist als Hinweis zu werten, dass geschätzte anteilige Häufigkeiten von Personen mit transgeschlechtlicher oder non-binärer Selbstbeschreibung nicht mit geschätzten Häufigkeiten von Menschen mit einem Wunsch nach körpermodifizierenden medizinischen Maßnahmen gleichzusetzen sind. |
In einer neueren bevölkerungsbasierten Studie wurde der Anteil der TGD-Personen unter etwa 50.000 erwachsenen Einwohnern des schwedischen Landkreises Stockholm untersucht (Ahs u. a., 2018). Der Zähler wurde ermittelt, indem den Teilnehmern die folgende Frage gestellt wurde: „Ich möchte, dass Hormone oder Operationen eher wie bei jemandem eines anderen Geschlechts wirken.“ Zwei weitere Punkte wurden entwickelt, um Personen zu identifizieren, die unter Genderinkongruenz leiden: „Ich fühle mich wie jemand anderen Geschlechts“ und ‚Ich würde gerne als jemand anderen Geschlechts leben oder behandelt werden.‘ 0,5 % der Teilnehmer gaben an, dass sie entweder eine Hormontherapie oder eine gender-affirmative Operation benötigten. Personen, die angaben, sich wie jemand anderen Geschlechts zu fühlen, und Personen, die als Person anderen Geschlechts leben oder behandelt werden wollten, machten 2,3 % bzw. 2,8 % der Gesamtstichprobe aus. |
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Eine repräsentative Umfrage unter 6.000 Erwachsenen in Brasilien (Spizzirri et al., 2021) ergab einen Anteil von 1,9 % gendernonkonformer Personen, wovon sich 0,7 % als transgender und 1,2 % als non-binär beschrieben. | Bevölkerungsbasierte Daten außerhalb von Nordamerika und Westeuropa sind seltener. Eine aktuelle Studie bietet wertvolle Daten aus einer großen repräsentativen Umfrage unter 6.000 Erwachsenen in Brasilien (Spizzirri u. a., 2021). Die Genderidentität der Teilnehmer wurde anhand der folgenden drei Fragen bewertet: 1) „Welche der folgenden Optionen beschreibt am besten, wie Sie sich derzeit fühlen?“ (Optionen: Ich fühle mich als Mann, ich fühle mich als Frau und ich fühle mich weder als Mann noch als Frau); 2) „Welches Geschlecht ist in Ihrer Geburtsurkunde eingetragen?“ (Optionen: männlich, weiblich und unbestimmt); und 3) „Mit welcher dieser Situationen können Sie sich am ehesten identifizieren?“ (Optionen: Ich wurde als Mann geboren, habe mich aber seit meiner Kindheit als Frau gefühlt; ich wurde als Frau geboren, habe mich aber seit meiner Kindheit als Mann gefühlt; ich wurde als Mann geboren und fühle mich wohl in meinem Körper; ich wurde als Frau geboren und fühle mich wohl in meinem Körper). Anhand der Antworten auf diese drei Fragen stellten die Autoren fest, dass 1,9 % der Befragten transgeschlechtlich waren, (0,7 % wurden als Transgender und 1,2 % als nichtbinär definiert). | |
Zu Bevölkerungsanteilen gender-nonkonformer Jugendlicher unter 19 Jahren gibt es mehrere schulbasierte Erhebungsstudien. In einer nationalen Querschnittserhebung an High-Schools in Neuseeland (n = 8.000) gaben 1,2 % der Befragten an, sich als transgender oder gender-divers zu identifizieren, weitere 2,5 % gaben an, sich hierzu nicht sicher zu sein (Clark et al., 2014). In einer Umfrage unter 14- bis 18-jährigen Schüler*innen im US-Bundesstaat Minnesota (N = 81.000) gaben 2,7% der Befragten an, transgender oder gender-divers zu sein (Eisenberg et al., 2017). In dem alle zwei Jahre in den USA landesweit mit High-School-Schülern*innen der Klassen neun bis zwölf (Altersspanne 13-19 Jahre) durchgeführten Youth Risk Behavior Survey (YRBS) bejahten in der Erhebung im Jahre 2017 von den fast 120.000 Teilnehmer*innen in 19 urbanen Regionen 1,8 % die Aussage „Ja, ich bin transgender" und 1,6 % die Aussage „Ich bin nicht sicher, ob ich transgender bin" (Johns et al., 2019). | Die Literatur zu den Bevölkerungsanteilen von TGD-Jugendlichen (Personen unter 19 Jahren) enthält mehrere Umfragestudien, die in Schulen durchgeführt wurden. Eine nationale Querschnittserhebung in Neuseeland aus dem Jahr 2012 sammelte Informationen über die TGD-Identität von Schülern der Sekundarstufe (Clark u. a., 2014). Von den über 8.000 Umfrageteilnehmern identifizierten sich 1,2 % selbst als TGD und 2,5 % gaben an, sich nicht sicher zu sein. Eine weitere Studie mit Schulkindern basierte auf einer Umfrage unter Schülern der 9. und 11. Klasse (im Alter von 14 bis 18 Jahren) im US-Bundesstaat Minnesota aus dem Jahr 2016 (Eisenberg u. a., 2017). Von den fast 81.000 Umfrageteilnehmern gaben 2,7 % an, TGD zu sein. Eine neuere Studie (Johns u. a., 2019) präsentierte die Ergebnisse der Youth Risk Behavior Survey (YRBS), die alle zwei Jahre unter lokalen, bundesstaatlichen und nationalen repräsentativen Stichproben von US-amerikanischen Highschool-Schülern der Klassen 9 bis 12 (ungefähres Alter 13 bis 19 Jahre) durchgeführt wird. Der YRBS-Zyklus 2017 wurde in 10 Bundesstaaten und 9 großen städtischen Gebieten durchgeführt und beinhaltete die folgende Abfolge: „Manche Menschen bezeichnen sich selbst als Transgender, wenn ihr Geschlecht bei der Geburt nicht mit der Art und Weise übereinstimmt, wie sie über ihr Gender denken oder fühlen. Sind Sie Transgender?“ Von den fast 120.000 Teilnehmern an den 19 Standorten antworteten 1,8 % mit ‚Ja, ich bin Transgender‘ und 1,6 % mit ‚Ich bin mir nicht sicher, ob ich Transgender bin‘. | |
Nur eine Studie untersuchte den Anteil von sich selbst als transgender beschreibenden Kindern in einer jüngeren Altersgruppe. In der 2011 durchgeführten Umfrage unter N = 2.700 Schüler*innen der Klassen sechs bis acht (Altersspanne 11-13 Jahre) an öffentlichen Mittelschulen in San Francisco (Shields et al., 2013) identifizierten sich 1,2 % der Befragten auf die Frage „Was ist dein Geschlecht?" selbst als transgender, wobei die Antwortmöglichkeiten „weiblich, männlich oder transgender" waren. | Nur eine Studie untersuchte den Anteil der selbstidentifizierten TGD-Kinder in einer jüngeren Altersgruppe. Shields u. a. analysierten die Daten einer Umfrage aus dem Jahr 2011, an der 2.700 Schüler der Klassen 6 bis 8 (Altersgruppe 11 bis 13 Jahre) aus 22 öffentlichen Mittelschulen in San Francisco teilnahmen (Shields u. a., 2013). 33 Kinder identifizierten sich selbst als TGD, basierend auf der Frage „Was ist dein Gender?“, bei der die möglichen Antworten „weiblich, männlich oder transgender“ lauteten. Der daraus resultierende Anteil der Transgender-Befragten betrug 1,3 %. | |
In Zusammenschau ergibt sich aus der berichteten Datenlage, dass in Studien, in denen ein Transgender-Status anhand von Selbstauskünften ermittelt wurde, der ermittelte Anteil zwischen 0,3 % und 0,5% bei Erwachsenen sowie zwischen 1,2 % und 2,7 % bei Jugendlichen lag. Wurde die Definition erweitert, um ein breiteres Spektrum gender-nonkonformer Erscheinungsformen einzubeziehen, wie z.B. unsichere oder ambivalente Geschlechtsidentität, waren die entsprechenden Anteile höher: 0,5 % bis 4,5 % bei Erwachsenen und 2,5 % bis 8,4 % bei Jugendlichen. Dies verweist auf ein breites und fluides Spektrum nonkonformer bzw. „queerer“ Selbstbeschreibungen im Jugendalter, welches nicht mit der medizinischen Diagnose einer GI gleichzusetzen ist, sondern einer Binnendifferenzierung bedarf. | Wenn in den Umfragen speziell nach der „transgender“-Identität gefragt wurde, lagen die Schätzungen bei Erwachsenen zwischen 0,3 % und 0,5 % und bei Kindern und Jugendlichen zwischen 1,2 % und 2,7 %. Wenn die Definition erweitert wurde, um umfassendere Manifestationen der Gender-Diversität, wie Genderinkongruenz oder Genderambivalenz, einzubeziehen, waren die entsprechenden Anteile höher: 0,5 % bis 4,5 % bei Erwachsenen und 2,5 % bis 8,4 % bei Kindern und Jugendlichen. |
Vergleich von AWMF-S2k-Leitlinie Abschnitt 2.1 mit WPATH SOC8 (engl.)
Anlage
Empfehlungen und Evidence Statements der AWMF Leitlinie : Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung (S2k): Vergleich des Entwurfs vom März 2024 und der finalen Veröffentlichung vom März 2025
Anmerkungen von TTSB
*) Jugendliche, die nicht für eine medizinische Transition infrage kommen (s. Punkt 3) oder dieser nicht zustimmen, bleiben mit ihrer Notlage bzw. Genderunzufriedenheit allein – für sie gibt es in der Leitlinie keine Empfehlung. Der in 2025-Fassung der Leitlinie neu eingeführte Begriff ‚Genderunzufriedenheit‘ (engl. gender non-contentedness, s. auch Rawee-Studie 2024) dient laut Glossar der Leitlinie (S. 26) der Abgrenzung zu Genderinkongruenz und -dysphorie und möglicherweise auch als Alibi, dass die Leitlinie für diese Jugendlichen gar keine Empfehlungen entwickelt hat?
**) gegengeschlechtliche Hormone: In der Leitlinie wird durchgehend der Terminus „geschlechtsangleichende Hormone“ verwendet – ein eher ideologisch geprägter Begriff.
Danke
Wir danken der SEGM für die freundliche Genehmigung, die Analyse der S2k-Leitlinie übersetzen und auf der TTSB-Website einstellen zu dürfen.
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Der Wunsch, ein anderes Gender/Geschlecht zu sein, ist oft vorübergehend
„Trans*"-Diagnosen: 8-facher Anstieg, aber oft vorübergehend
Trustworthy evidence-based versus untrustworthy guidelines: detecting the difference,
Die S2k-Leitlinie ist nicht vertrauenswürdig
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