Deutschland verabschiedet sich von der Realität: Das Selbstbestimmungsgesetz

engin akyurt MwPAI5SVcm0 unsplashIch befürchtete Schlimmes, aber ich hatte nicht damit gerechnet, wie sich die Ereignisse entwickeln würden. Ich nahm an einer 1-tägigen Schulung für Freiwillige in der Jugendarbeit in meiner Heimatstadt in Süddeutschland teil. Die professionellen Ausbilderinnen und Ausbilder der staatlich geförderten LAG Jungen*- & Männer*arbeit und der LAG Mädchen*arbeit BW begrüßten strahlend eine gemischte Gruppe von 10 Freiwilligen und stellten sich mit ihren Pronomen vor. Sie haben uns eingeladen, es ihnen gleichzutun. Einige der Freiwilligen waren ziemlich überrascht und haben dann mitgemacht, andere haben kurz gezögert und ich habe abgelehnt. Der Rest der 4-stündigen Schulung drehte sich fast ausschließlich darum, dass Transgender-Identitäten anerkannt werden sollten.

Ich habe mich gefragt, ob das wirklich die dringendsten Probleme sind. Ist es richtig, junge Menschen zu ermutigen, sich auf einen Weg zu begeben, der leicht damit enden kann, dass sie zu lebenslangen Patienten werden oder Männer in Frauenräume zu lassen? Meine Fragen waren unerwünscht. Offenbar galten sie als Zeichen von Bigotterie. Die Ausbilder stellten in Frage, ob ich überhaupt für das Projekt geeignet sei. Ein paar Tage später wollten die organisierenden Sozialarbeiter mich von der weiteren Freiwilligenarbeit mit der Gruppe ausschließen – in diesem Fall hatten sie keinen Erfolg.

Deutschland: Vorsprung durch Magisches Denken

Andere Länder haben eine ähnliche institutionelle Vereinnahmung erlebt, doch Deutschland ist weiter gegangen als viele andere, die Transgender-Ideologie auf die Spitze zu treiben und „alle Grenzen aufzulösen“, wie es Helen Joyce in ihrer Rede auf der diesjährigen Genspect-Konferenz in Lissabon1 ausdrückte.

Die Ampelkoalition in Deutschland hat einen doppelten Gender-Angriff gestartet: Erstens rechtlich, indem sie das SBGG eingeführt hat. Und zweitens verwaltungstechnisch, indem sie den Weg für sozialversicherte medizinische Eingriffe auf Verlangen ohne untere Altersgrenze geebnet hat.

Das Hauptanliegen des neuen Selbstbestimmungsgesetzes, das am 1. November in Kraft tritt, ist die Abschaffung aller sozialpsychologischen Gutachten, die für eine rechtliche Änderung des Geschlechts erforderlich sind. Künftig kann jeder sein offizielles Geschlecht beim örtlichen Standesamt durch einen einfachen Sprechakt ändern. Das neue Gesetz erlaubt es Eltern, das Geschlecht ihrer Kinder bei der Geburt selbst zu bestimmen. Ab dem 14. Lebensjahr können auch Teenager ihr gesetzliches Geschlecht ändern lassen. Die elterlichen Einwände können vom Familiengericht überstimmt werden, das erfahrungsgemäß dazu neigt, selbsterklärte Genderidentitäten zu bestätigen. Schon jetzt entziehen die Gerichte den Eltern ihre Rechte und nehmen junge Menschen bei Konflikten in ihre Obhut. Menschen können mit einem Bußgeld über 10.000 Euro bestraft werden, wenn sie den alten Namen und das biologische Geschlecht einer Trans-Person „offenbaren“.

15.000 Anträge sind offenbar schon in der Pipeline, noch bevor das neue Gesetz in Kraft getreten ist, was die ursprünglichen Prognosen der Regierung weit übertrifft. Die ersten Fälle werden bereits vor Gericht verhandelt. Eine Person mit männlichen äußeren Geschlechtsmerkmalen, die sich aber als Frau identifiziert und der die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio für Frauen vom Betreiber verweigert wurde, klagt derzeit mit Unterstützung der Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung, Ferda Ataman, auf 1.000 Euro Entschädigung wegen Verletzung der „Persönlichkeitsrechte“. Konflikte wie diese werden in der ohnehin schon aufgeheizten politischen Atmosphäre in Deutschland noch mehr Öl ins Feuer gießen.

Leise Förderung medizinischer Eingriffe

Die zweite Angriffslinie der Regierung ist möglicherweise noch unheimlicher. Sie zielt darauf ab, im Verborgenen die Gender-Medizin zu fördern. Deutsche Krankenhäuser führen bereits Mastektomien und sogar Genitaloperationen an Minderjährigen durch2. Aber transaktivistische Politiker sind darauf bedacht, dies aus dem Rampenlicht zu halten. Tatsächlich eskalierte mein Konflikt mit den Fortbildungsleitern der LAG Jungen* und LAG Mädchen* nachdem sie rundheraus geleugnet hatten, dass solche medizinischen Eingriffe in Deutschland überhaupt stattfinden - und das, obwohl die Krankenhäuser im Internet offen für Mastektomien werben, die jungen Menschen „zu einem neuen Lebensgefühl auf dem Weg zum neuen ‚Ich‘“ verhelfen3.

Medizinische Transgender-Eingriffe sind immer noch relativ teuer. Aber die Regierung setzt sich dafür ein, das Gesetz zu ändern, im Koalitionsvertrag steht: „Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen müssen vollständig von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden“4. Das ist erstaunlich in einem Land, dessen Gesundheitssystem bereits unter der Last explodierender Kosten und Nachfrage ächzt und in dem Zuzahlungen der Patienten bei nicht wenigen Behandlungen eher die Regel als die Ausnahme sind.

Die Politiker argumentieren, dass das Selbstbestimmungsgesetz nichts mit medizinischen Eingriffen zu tun habe. Die Erkenntnisse des Tavistock in London und die Schlussfolgerungen des Cass Review – insbesondere die Erkenntnis, dass soziale Transition kein neutraler Akt ist und dass Pubertätsblocker eine Kaskade zunehmender Medikalisierung in Gang setzen – werden ignoriert. Diese politische Strategie wird durch das dezentralisierte Gesundheitssystem in Deutschland begünstigt. Die Regierung argumentiert, dass sie keinen Einfluss auf die von den medizinischen Fachverbänden herausgegebenen Richtlinien habe. Der Leitlinienentwurf, der in den nächsten Tagen von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) veröffentlicht werden soll, ignoriert die jüngsten internationalen Studien sowie den Cass-Review vollständig. Er festigt den Affirmation-Trend in Deutschland, indem er die Alters- und Zugangsvoraussetzungen für Minderjährige aufhebt, die körperverändernde endokrine und chirurgische Eingriffe vornehmen lassen wollen. Sie erklären auch, dass die Forderung nach einer obligaten Psychotherapie vor solchen Eingriffen aus Gründen der Achtung der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt sei.

Damit kann die Regierung jede Verantwortung dafür abstreiten, dass junge Menschen auf einen unumkehrbaren Weg zu Dauerpatienten gebracht werden. Anders als im Vereinigten Königreich, wo der Gesundheitsminister auf die Bedenken der Eltern transidenter Kinder gehört und reagiert hat, hat der deutsche Gesundheitsminister die von deutschen Elterngruppen vorgelegten Beweise ignoriert5.

In der Zwischenzeit pumpt der Queer-Beauftragter der Bundesregierung, Sven Lehmann, mit einem Budget von 70 Millionen Euro Geld in Schulen, Jugendarbeit und Beratungsstellen, um die Akzeptanz und Affirmation von Transgender-Identitäten zu fördern und Kinder von ihren Eltern zu entfremden.

Die Opposition an den Rand gedrängt

Der Widerstand gegen diese politischen Entwicklungen kommt von einer breiten Koalition aus größtenteils rein freiwilligen Organisationen. Frauengruppen, Lesben und Schwule sehen ihre hart erkämpften Rechte und ihre gesellschaftliche Akzeptanz bedroht. Die Bundesärztekammer hat im Mai eine Resolution6 verabschiedet, in der sie Restriktionen für den Einsatz von Pubertätsblockern bei unter 18-Jährigen fordert. Die Mehrheit der leitenden Kinderpsychiaterinnen und -psychiater hat Einwände gegen die medizinischen Leitlinien erhoben, doch ihre Stimmen wurden durch die verfahrenstechnischen Manöver der institutionellen Apparatschiks zum Schweigen gebracht7.

Wenig von dieser Kritik findet ihren Weg in die Mainstream-Presse, die eifrig einen scheinbar endlosen Strom von Artikeln veröffentlicht, in denen „Gender als Spektrum“ gefeiert wird und Transgender-Narrative in Artikel über alles von der politischen Krise in Georgien bis zum Stress von LKW-Fahrern eingeflochten werden.

Und so unterstützt die Presse Deutschlands institutionelle Leiter dabei, unbeirrt von jeglicher Kritik weiterzumachen.

Transgender-Politik als Flucht vor der Realität

Das hatte der Studentenführer Rudi Dutschke wahrscheinlich nicht im Sinn, als er 1967 den Slogan „Der Marsch durch die Institutionen“ prägte. Es gibt keine einfache Erklärung für den (hoffentlich vorübergehenden) Triumph einer so offenkundig „sonderbaren“ Ideologie. Ein neues Buch8 von Dr. Alexander Korte, das kürzlich auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurde, legt nahe, dass Transgender-Politik „womöglich eine Art Verschiebung im psychoanalytischen Sinne (ist), weil Politik bislang immer noch keine Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung und keine Lösungen gegen den entfesselten Kapitalismus hat.“ Die Transgender-Politik wirkt wie eine Flucht vor der Realität und ein Versuch, den Sozialliberalen zu versichern, dass der Fortschritt, so wie sie ihn verstehen, noch irgendwie möglich ist. In Deutschland könnte die Sehnsucht nach der Absolution von der Last der Geschichte auch eine Erklärung für eine hyperindividualistische und vermeintlich fortschrittliche Denkweise sein, die Frauen, Schwulen und Lesben und vor allem Familien und Kindern unermesslichen Schaden zufügt.

Am 1. November 2024 werden die Stimmen der Vernunft in Berlin gegen das neue Selbstbestimmungsgesetz protestieren. Wir wissen, dass es auch vor deutschen Botschaften in ganz Europa Proteste geben wird. Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung. Wir brauchen sie.

von David Allison, Erstveröffentlichung bei Genspect, 31.10.2024, Übersetzung von David Allison

David Allison ist ein ehemaliges Mitglied der deutschen Grünen Partei und Sprecher von Transteens-Sorge-Berechtigt (TTSB). TTSB ist eine Elterninitiative in Deutschland, die sich gegen die unnötige Medikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen wendet, die ihr Geschlecht infrage stellen und/oder nicht den Genderstereotypen entsprechen.

                             

Referenzen

1  Rede von Helen Joyce: genspect.org/what-will-it-take-to-return-to-reality

2  Paul Steger – Gender Studies: Beyond the Rainbow – Was passiert in Europa? 'Geschlechtsumwandlungsoperationen' in Deutschland?

3  Beispiel Werbung für Transgender-Chirurgie: sana.de/duesseldorf-gerresheim/medizin-pflege/zentrum-fuer-transgenderchirurgie-sowie-postbariatrische-chirurgie-adipositas-straffungsoperationen-liposuktion-lipoedem/mastektomie-bei-frau-zu-mann-fzm

4  Koalitionsvertrag der Ampel 2021: cms.gruene.de/uploads/assets/Koalitionsvertrag-SPD-GRUENE-FDP-2021-2025.pdf, S. 119

5  Proteste und Reaktionen zum Entwurf der S2k-Leitlinie: transteens-sorge-berechtigt.net/lltimeline.html

6  Petition zu PB: aerzteblatt.de/nachrichten/151391/Einsatz-von-Pubertaetsblockern-und-Hormontherapien-staerker-abwaegen

7  DGKJP-Kongress in Rostock - Keine Diskussion;
Annegret Böhme: faz.net/aktuell/karriere-hochschule/kontroverse-ueber-die-behandlung-von-geschlechtsdysphorie-110031383.html, Twitter
Anne Burger: overton-magazin.de/hintergrund/wissenschaft/transdebatte-dreht-sich-der-wind?
Prof. Dr. Dr. T. Banaschewski / A. Korte: Rostock-Rumble, YT

8  Dr. A. Korte: shop.kohlhammer.de/hinter-dem-regenbogen


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