Das Niederländische Modell - populär, aber evidenzschwach

Michael Biggs ist Professor an der Universität Oxford. Er beschreibt in einem Forschungsartikel die Ursprünge sowie die Verbreitung des sog. Niederländischen Modells und recherchierte dabei auch die Evidenzbasis.

The Dutch Protocol for Juvenile Transsexuals: Origins and Evidence, Biggs, 19.09.2022

lighthouse 4752594 congerdesign pixabayAusgangspunkt für das sog. Niederländische Modell zur Behandlung von Jugendlichen, die sich einen anderen Körper wünschen, war vor ca. 25 Jahren die Verwendung von GnRHa-Medikamenten, die die Ausschüttung von Sexual-Hormonen stoppt. Diese Art der Behandlung wurde von der Psychologin Peggy Cohen-Kettenis angestoßen, die keine Endokrinologin ist. Weil viele erwachsene Detransitionierte nicht zufrieden waren mit ihrem „Passing”, war die Idee, bei Jugendlichen möglichst früh mit der Transition zu beginnen, um bessere kosmetische Ergebnisse und Körpergrößen zu erzielen.

Die Blockade der natürlichen Pubertät von Jugendlichen mit Gender-Problemen ist - gefolgt lebenslang von gegengeschlechtlichen Hormonen und oft auch Operationen - mittlerweile zum internationalen Standard für die Behandlung von Gender-Dysphorie (GD) geworden.

Im Grunde gibt es nur eine einzige niederländische Längsschnitt-Studie mit 70 genderdysphorischen Jugendlichen, die mit Pubertätsblockern, Hormonen und Operationen behandelt wurden und die kurze Zeit nach der letzten Operation positive Ergebnisse lieferte.

Die Beurteilung, ob jemand besser psychologisch funktioniert und in die gewünschte Gender-Rolle passt, hängt immer auch von den jeweiligen Rahmenbedingungen, den Eigenschaften der Kohorte und der Vergleichsgruppe (in diesem Fall Erwachsene Transsexuelle) ab. Es war damals nicht nur eine andere Zeit, es wurden auch erstmalig Jugendliche transitioniert:

Another is the fact that they were still young; most had no sexual partner. Moreover they had not reached an age at which they might regret their inability to conceive children.

Die Behandlung wurde zunächst mit der Behauptung gerechtfertigt, sie sei reversibel und diene der Diagnose, doch diese Behauptungen erweisen sich als unglaubwürdig. Des Weiteren sind Pubertätsblocker bis heute in keinem Land der Erde zur Blockade der natürlichen Pubertät zugelassen, sondern werden stets Off-Label angewendet. Auch die Hormone wie Testosteron sind nicht für die Geschlechtsangleichung zugelassen.

Einige Effekte der Pubertätsblockierung wurden im Laufe der Zeit relativ sorgfältig untersucht (z. B. die unzureichende Bildung von Knochenmasse, IQ-Defizit), während andere ignoriert wurden, z. B. die Auswirkungen auf die sexuelle Funktion und auf den Kontext „Genderdysphorie - Homosexualität”.

There is one cursory reference to 'loss of fertility.' The words orgasm, libido, and sexuality do not appear.

Das ist insofern grotesk, als es sich bei Pubertätsblockern bekannterweise um stark wirksame Medikamente handelt, die u. a. für die chemische Kastration von Männern mit Paraphilien zugelassen ist. Die erhöhte Komplikationsrate bei Vaginoplastiken durch fehlendes Peniswachstum aufgrund der Pubertätsblockierung wurde im Manifest zum Niederländischen Protokoll von 2006 ebenfalls nicht erwähnt, obwohl 71 % der behandelten Transmädchen das invasivere Operationsverfahren, das auch Darmteile verwendet, benötigten.

Ursprünglich sollte die Pubertätsblockade auch zur Diagnose dienen. Da allerdings keine(r) der PatientInnen der niederländischen Studie die Behandlung vorzeitig beendete und von der Trans-Identität abkehrte, war die Pubertätsblockade für eine Diagnose untauglich, Erklärungen wie Self-Fulfilling-Prophecy oder Iatrogenese scheinen naheliegender zu sein. Seither wurde stets und auch in anderen Ländern (z. B. NL, 2022) bestätigt, dass nahezu 100% aller Jugendlichen, die mit PB beginnen, zu Cross-Sex-Hormonen wechseln, die spätestens nach dem Verlust der hormonproduzierenden Geschlechtsorgane lebenslang benötigt werden.

Ergänzung: High Court, Urteil vom 01.12.2020

The evidence shows that the vast majority of children who take PBs move on to take cross-sex hormones, that Stages 1 and 2 are two stages of one clinical pathway and once on that pathway it is extremely rare for a child to get off it. ... Indeed, the statistical correlation between the use of puberty blockers and cross-sex hormones supports the case that it is appropriate to view PBs as a stepping stone to cross-sex hormones., High Court, Urteil vom 01.12.2020

Parallel zur niederländischen Längsschnitt-Studie mit den 70 genderdysphorischen Jugendlichen, die nach dem Niederländischen Protokoll behandelt wurden, zeigten andere Studien, dass die meisten GD-Jugendlichen, die keine PB bekamen, keine transsexuelle Entwicklung machten. Solche Studien sowie das Thema Homosexualität wurden in Artikeln zum Niederländischen Protokoll stets außen vor gelassen.

Rollout international

Zunächst war die Behandlung mit Pubertätsblockern selbst in den Niederlanden selten: Bis zum Jahr 2000 wurde GnRHa nur an 7 Jugendliche unter 16 Jahren verabreicht, von 2000-2008 waren es 111 Jugendliche, bis 2015 verabreichte die Amsterdamer Klinik GnRHa an insgesamt 333 Jugendliche unter 18 Jahren.

2006 wurde das „Niederländischen Protokoll" in einem finanziell von Ferring Pharmaceuticals (Hersteller von GnRHa-Produkten) unterstützten Artikel veröffentlicht und relativ detailliert beschrieben. Anschließend wurde die Behandlung in vielen westlichen Ländern übernommen, oft wurden und werden die definierten Rahmenbedingungen jedoch nicht eingehalten. Die ursprünglich definierten Kriterien scheinen streng zu sein und enthalten Mindestaltersangaben (12J. bzw. Tannerstadium 2 für Pubertätsblocker, 16 Jahre für Cross-Sex-Hormone und 18 J. für OPs). Zudem:

  • sollte die GD bereits in der Kindheit begonnen haben und sich mit Beginn der Pubertät verstärkt haben.
  • sollte der Jugendliche psychologisch stabil sein und nicht unter anderen psychischen Problemen leiden.
  • sollte die Familie des Jugendlichen unterstützend sein.

Interessanterweise wurde das veröffentlichte Protokoll selbst in den Niederlanden nicht immer strikt befolgt. Unter anderem ist ein Fall bekannt, in dem in den Niederlanden Louis Gooren (Psychiater und Endokrinologe) 1996 einem 13jährigen Jugendlichen aus England gegen den Willen von dessen Psychiater Medikamente verschrieben hat. (Dies passierte im Zusammenhang mit dem Film „The Wrong Body”, der 1996/7 in Part1 und Part2 in England heraus kam.)

"Gooren’s willingness to prescribe drugs for a child in another country, met briefly in front of the cameras, against the wishes of the child’s own psychiatrist, hints that the assessment process was not always as rigorous as portrayed in the published literature."

Dies behauptet auch ein Detranstionierter, der in Amsterdam und Utrecht transitioniert worden war und vor kurzem an die Öffentlichkeit ging Es ist, als ob man aus einer Sekte aussteigt

In einigen Ländern, wie England, wurde die Übernahme des „Niederländischen Protokolls” eher von genderdysphorischen Jugendlichen und deren Eltern bzw. von Pro-Trans-Organisationen als von Ärzten vorangetrieben. Es wurde Medizin-Tourismus propagiert bzw. damit gedroht. Vorsichtige KlinikerInnen wurden als „transphob" bezeichnet, sodass schließlich auch die neue Leitung des GIDS im Tavistock London für den „Pausenknopf” warb. 2015 beschloss der NHS in Großbritannien, GnRHa für Jugendliche im Tanner-Stadium 2 ohne Altersbeschränkung anzubieten. Mittlerweile bieten dubiose Privat-Kliniken international Beratung und Diagnosen zu Genderdysphorie per Videomeeting an sowie die Möglichkeit der Online-Rezeptverordnung.

Bis mindestens 2016 wurde fast überall die Reversibilität der Behandlung mit Pubertätsblockern postuliert, was praktischerweise auch das Problem der Zustimmungsfähigkeit von Jugendlichen zu diesem endokrinologischen Experiment entschärfte.

Interessant ist auch in der niederländischen Follow-Up-Studie von 2011 die Aussage zum Alter:

Age 16 was chosen because some cognitive and emotional maturation is desirable when starting partially irreversible interventions and Dutch adolescents are legally competent to make a medical decision without parents’ consent.

Die positiven Ergebnisse der NL konnten nicht bestätigt werden

Lediglich in Großbritannien wurde eine vergleichbare Wiederholungsstudie durchgeführt, die aber keine Verbesserung der psychologischen Funktion bzw. der Verringerung von Genderdysphorie (GD) ergab.

In her keynote address, Carmichael observed that 'our results have been different to the Dutch' (Carmichael, 2016). According to one presentation, adolescents after one year of GnRHa 'report an increase in internalising problems and body dissatisfaction, especially natal girls' (Carmichael et al., 2016).

Another presentation was also negative: 'Expectations of improvement in functioning and relief of the dysphoria are not as extensive as anticipated, and psychometric indices do not always improve nor does the prevalence of measures of disturbance such as deliberate self harm improve' (Butler, 2016)

Selbst die 2018 veröffentlichte Meta-Studie in Pediatrics zur systematischen Überprüfung der Evidenz für die hormonale Behandlung von genderdysphorischen Jugendlichen stellte in allen Studien Verzerrungen durch geringe Stichproben, kaum Kontrollgruppen, hohe Absprungquote, fehlende Schlüsselfragen, etc fest. Die Autoren des Reviews fassten zusammen:

„Low-quality evidence suggests that hormonal treatments for transgender adolescents can achieve their intended physical effects, but evidence regarding their psychosocial and cognitive impact [is] generally lacking.”

Kommentierung der 16 Studien, in denen die „genderbestätigende medizinische Versorgung” thematisiert wurde, L. Sapir, 07.10.2022

UPDATE: 4 Tage nach L. Sapier's Faktencheck des Artikels J. Turban, wurde auf Psych Today eine Korrektur von Turbans Artikel „The Evidence for Trans Youth Gender-Affirming Medical Care" (11.10.2022) veröffentlicht.

Faktencheck der Korrektur-Version des Turban-Artikels, L. Sapir, 25.10.2022

Going Dutch - The small study that launched a big experiment in gender change, B. Lane, 03.11.2022

Trotzdem verfahren die meisten Gender-Kliniken/erInnen für Jugendliche weltweit nach demselben Schema (euphemistisch „Gender-affirmative Therapy" (GAT) genannt):

  • Bestätigung der Selbst-Diagnose,
  • Pubertätsblocker,
  • lebenslange Verordnung von Hormonen des Gegengeschlechts,
  • häufig auch körpermodifizierende Operationen.
  • Behandlung der durch die medizinischen Maßnahmen entstandenen Neben- und Folgewirkungen, z. B. Korrektur-Operationen, Haarausfall, Hormonschwankungen, Atrophien von Geschlechtsorganen, Herz-Kreislauf-Probleme, etc.

Zur Situation in Deutschland

Auch in Deutschland lassen sich privat Zahlende aus anderen Ländern gerne behandeln.

„Dabei ist die Behandlungsphilosophie in Deutschland eher noch liberaler: Richter-Unruh berichtet von Patienten aus Großbritannien, die zu ihr kämen, weil es in Deutschland keine Altersgrenzen gäbe." Tagesspiegel, 28.09.2020

Die Evidenzbasis ist weltweit die gleiche: Experten in unterschiedlichen Ländern wie Schweden, Finnland, England oder dem Bundesstaat Florida haben vor kurzem wiederum keine ausreichenden Beweise gefunden, die eine medizinische Transition als Routinebehandlung legitimieren würde.

In Deutschland sind die Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Jugendlichen mit Genderproblemen seit vielen Jahren „in Bearbeitung". Beteiligt sind MedizinerInnen, PsychotherapeutInnen sowie VertreterInnen von Pro-Trans-Organisationen.

Die Leitlinienkommission verweist einstweilig auf die relativ vagen Leitlinien internationaler Gremien, wie WPATH, die einen „individualisierten Ansatz” präferieren und deren Empfehlungen aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Belege häufig auf Basis einer Experten-Abstimmung (Expertenkonsens) zustande gekommen sind. Außerdem wird auf die Ad-hoc-Stellungnahme des Dt. Ethikrates von 2020 verwiesen, allerdings:

"Der Ethikrat hat mit seiner Stellungnahme zur Behandlung geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendlicher wenig Hilfreiches beigetragen, insofern darin lediglich die bestehenden Positionen beschrieben wurden, um für beide Verständnis zu äußern. Die erhoffte Auseinandersetzung bezüglich der ethischen Bewertung ist gerade ausgeblieben." Korte, 2022

Deutschland - Wende oder weiter so?


Was ist vom Niederländischen Modell übrig?

Es scheint mittlerweile so zu sein, dass in vielen Ländern im Rahmen der üblichen sog. Gender-Affirmativen-Versorgung alles möglich ist, wenn die Beteiligten sich einig sind.

Vom ursprünglichen Dutch Protokoll wird üblicherweise in mehrfacher Hinsicht abgewichen, insofern taugt es nicht zur Referenzierung / Legitimierung des heute üblichen Affirmation-Only-Trends:

  • Heute hat die Mehrheit der behandelten Jugendlichen keine Genderdysphorie seit der frühen Kindheit, sondern erst seit der Pubertät.
  • Während es früher meist biologische Jungen waren, sind es jetzt überwiegend biologische Mädchen.
  • Für das Dutch Protokoll wurden nur PatientInnen ohne bestehende psychische Komorbiditäten zugelassen, während dieser Aspekt vielerorts heute kaum noch eine Rolle spielt.
  • Die Niederländischen BehandlerInnen führten eine gründliche Begutachtung/Beurteilung durch, die heute nicht mehr unbedingt gegeben ist.
  • Die Altersgrenzen für die medizinische Behandlung von Genderdysphorie nach dem niederländischen Modell werden kaum noch beachtet.
  • Die Abfolge Pubertätsblocker, Cross-Sex-Hormone, Operationen gilt durch den „individualisierten Behandlungs-Ansatz” als überholt.
  • Nachverfolgung, wissenschaftliche Begleitung und ethische Aufarbeitung werden vernachlässigt.

Daher warnen dieselben niederländischen ForscherInnen, die als Pioniere der medizinischen Transitions-Behandlung für Genderdysphorie gelten, davor, blindlings auf ihre damaligen Erkenntnisse zu referenzieren:

Niederlande: Hört auf, unsere Forschung blindlings zu übernehmen


Einige Länder weichen ab

Seit einiger Zeit weichen einige - als fortschrittlich bekannte - Länder wie Finnland und Schweden bei den Empfehlungen für die Behandlung von genderdysphorischen Jugendlichen unterschiedlich deutlich von den der medizinischen Transition sehr zugeneigten WPATH-SOC8 ab. In Großbritannien stehen der bisherige klinische Ansatz und die Gesamtkonzeption der GD-Behandlung offensichtlich vor grundlegenden strukturellen und inhaltlichen Änderungen, das Tavistock GIDS wird geschlossen. Auch in Frankreich mahnt die Academie nationale de Médecine zur Vorsicht bei der Anwendung von Pubertätsblockern und CSH.

Deutschland: Wende oder weiter so?


Pubertät ist keine Krankheit

Alles über Pubertätsblocker

Weitere Studien zu Pubertätsblockern

Puberty blockers for gender dysphoric youth: A lack of sound science, 15.09.2022