Sind die Cass-Empfehlungen für Deutschland 'kalter Kaffee'?

Prof. Dr. Romer, gender-affirmativer Versorger (UKM Münster, CTH) und Koordinator der geplanten Leitlinie für GD-Minderjährige, suggeriert am liebsten, dass der Affirmation-Only-Trend weiter wie bisher verfolgt werden könne. Im Spiegel-Interview (23.04.2024) unter dem Titel „Muss sich die Therapie von trans Jugendlichen in Deutschland ändern?" versucht er die Relevanz der Cass-Empfehlungen für Deutschland herunterzuspielen:

 

„Alle wichtigen Empfehlungen des »Cass Reports« waren uns aus Vorveröffentlichungen bereits bekannt und wurden entsprechend eingehend in der Leitlinie berücksichtigt. Die graduellen Unterschiede der Empfehlungen des Reports zu unseren Empfehlungen werden teilweise aufgebauscht. Es gibt sehr viele Übereinstimmungen in unserer Leitlinie mit den Cass-Empfehlungen, insbesondere, was die Notwendigkeit einer angemessenen psychotherapeutischen Versorgung von Jugendlichen angeht, die an einer Geschlechtsdysphorie leiden. Auch darin, wie komplex und herausfordernd verantwortungsvolle medizinische Entscheidungen in diesem Feld sind, besteht Einigkeit.” (Spiegel, 23.04.2024)

Die Behauptungen Romers im Spiegel-Interview entbehren größtenteils einer Grundlage, die meisten der genannten Maßnahmen in England gibt es beispielsweise in Deutschland in dieser Form nicht bzw. sind hierzulande auch nicht geplant. Für D-A-CH ist wie für England dieselbe unzufriedenstellende bzw. nicht schlüssige internationale Evidenzlage relevant. Mangels systematischer Recherche und Bewertung durch die Leitlinien-Kommission hat sie in mehr als 7 Jahren bedauerlicherweise nur eine S2k-Leitlinie mit lediglich konsensbasierten Empfehlungen zustande gebracht.*)

Die Spiegel-Journalistin hakt leider nicht nach, weil sie wenige Tage nach Erscheinen des Abschlussberichts zum Cass-Review noch nicht sattelfest ist oder aus welchen Gründen auch immer.

Wir gleichen hier die Aussagen von Prof. Dr. Romer einmal ab mit den Umsetzungsankündigungen des NHS, die auf den Cass-Empfehlungen basieren:

  • Einrichtung eines weitreichenden Forschungsprogramms zur Erweiterung der Evidenzbasis. Dabei geht es insbesondere um klinische Studien zu Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen, künftige Forschungsstudien werden aber auch eine wissenschaftliche Bewertung psychosozialer Interventionen beinhalten.
    •  Solche Studien gibt es in D-A-CH nicht, sie sind auch trotz der unsicheren Evidenz nicht geplant, da sie aufwendig seien.
  • Alle Minderjährigen sollen eine ganzheitliche Bewertung ihrer Bedürfnisse erhalten, um einen individuellen Versorgungsplan zu erstellen, insbesondere soll diese ein Screening auf neurologische Entwicklungsstörungen (inkl. ASS) und eine Beurteilung der psychischen Gesundheit beinhalten.
    •  Teile davon sind im Leitlinien-Entwurf angedacht,

Es soll gezielt auf „Depression, Angststörung sowie auf selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität geachtet werden” (S. 76), der Fokus liegt aber nicht auf „ganzheitlich", sondern auf Genderdysphorie/Genderinkongruenz.

  • Es sollen standardisierte, evidenzbasierte psychologische und psychopharmakologische Behandlungsansätze eingesetzt werden, um die Bewältigung der damit verbundenen Probleme und Begleiterkrankungen zu unterstützen. Dies sollte gegebenenfalls auch Unterstützung für Eltern/Betreuer und Geschwister umfassen.
    •  Ist teilweise im Leitlinien-Entwurf angedacht, wobei der Behandlungsschwerpunkt im LL-Entwurf für D-A-CH auf medizinischen Maßnahmen liegt, Begleiterkrankungen werden als „häufig durch eine Geschlechtsdysphorie mitverursacht" angesehen.
  • Allen, die sich einer medizinischen Behandlung unterziehen, soll zuvor eine Fruchtbarkeitsberatung angeboten werden.
    •  Ist im Leitlinien-Entwurf zwar vorgesehen,

in der kritischen Kommentierung von 14 Professoren der Kinder- und Jugendpsychiatrie heißt es jedoch:

„In Deutschland existieren derzeit keine etablierten Mindeststandards für eine Fertilitätsberatung bei betroffenen Minderjährigen mit GD (mit oder ohne ggfs. begleitende Psychopathologie). Weiterhin stellt sich auch hier die Frage, warum keine „muss“-Formulierung gewählt wurde.”

  • NHS England hat vom Cass-Review-Team die Verantwortung für die Durchführung einer Studie übernommen, die die Daten der vom ehemaligen Tavistock GIDS bereitgestellten Dienste mit einem Datensatz für Erwachsene verknüpft.
    •  GD-Behandelte wurden in D-A-CH nicht systematisch nachverfolgt, auch für die Zukunft ist keine Nachverfolgung geplant.
  • Definition eines Behandlungs-Pfades für Detransitionierte.
    •  Ist in D-A-CH derzeit unbekannt, aber auch nicht geplant.
  • Außerdem hat der NHS damit begonnen, mit potenziellen Partnerorganisationen die Möglichkeit zu prüfen, einen Folgedienst für 17- bis 25-Jährige als Pilotprojekt zur Evaluierung einzurichten.
    •  Ist im deutschen Leitlinien-Entwurf nicht vorgesehen.
  • In Großbritannien sind Pubertätsblocker zurzeit vollständig ausgesetzt, d. h. sie dürfen nicht mehr an Minderjährige abgegeben werden, solange keine entsprechende Studie gestartet wurde. Es sollen Maßnahmen und gesetzliche Lösungen entwickelt werden, um eine unangemessene Verschreibung von Pubertätsblockern im Ausland zu verhindern.
    •  In D-A-CH ist die Beschränkung von PB auf klinische Studien nicht vorgesehen.

Da PB zur GD-Standard-Behandlung zählen, wurde bisher noch nicht über Verschreibungen im Ausland nachgedacht.

Die Behauptungen des Leitlinien-Koordinators Romer, die Empfehlungen des Cass-Reviews

  • seien „eingehend in der Leitlinie berücksichtigt”,
  • „die graduellen Unterschiede der Empfehlungen des [Cass-]Reports zu unseren Empfehlungen [im LL-Entwurf] werden teilweise aufgebauscht”

entsprechen also keineswegs den Fakten.

Der gravierendste Unterschied ist, dass sich England und die skandinavischen Länder aus Gründen der Orientierung an der Evidenz von den vor allem „rechtebasierten" WPATH-Empfehlungen und der gender-affirmativen Behandlung abwenden, die Leitlinien-Kommission diese jedoch für D-A-CH festschreiben will.

Warum täuscht Prof. Romer die Öffentlichkeit?

Auch die Bemerkung Romers im Spiegel-Interview

„Es gibt sehr viele Übereinstimmungen in unserer Leitlinie mit den Cass-Empfehlungen, insbesondere, was die Notwendigkeit einer angemessenen psychotherapeutischen Versorgung von Jugendlichen angeht, die an einer Geschlechtsdysphorie leiden.”

ist ein Versuch zu beruhigen und mehr zu verschleiern als zu analysieren.

Aus unserer Sicht stellt sich der Vergleich des S2k-Leitlinienentwurfs mit den Cass-Empfehlungen im Punkt „angemessene psychotherapeutische Versorgung von Jugendlichen” ganz anderes dar:

Während in England (und in den nordischen Ländern Europas) bei Teenagern die Behandlung zusätzlicher psychologischer Probleme, psychosoziale Betreuung und eine explorative Psychotherapie die Maßnahmen der ersten Wahl (Primärtherapie) geworden sind, hat Psychotherapie im S2k-Leitlinien-Entwurf eine ganz andere Rolle, nämlich die der affirmativen Begleitung der medizinischen Transition. So formulierte es auch Prof. Pauli (Mitglied der LL-Kommission) beim Press-Briefing zum S2k-Leitlinien-Entwurf:

„Es ist ja so, dass Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie keine psychischen Erkrankungen sind und entsprechend gibt es zunächst mal keine Indikation für eine Psychotherapie. Natürlich kann eine psychotherapeutische Prozessbegleitung aber für diese gendernonkonformen Kinder und Transjugendlichen sehr sinnvoll sein.” (20.03.2024)

Psychotherapie als alleinige Behandlung von GD/GI wird von gender-affirmativen ExpertInnen vielfach sogar als „wirkungslos" bezeichnet. So heißt es auch im LL-Entwurf (Fußnote S. 109) pauschal ohne jegliche Referenz

„nach aktueller Erkenntnis wirkungslosen Therapie (alleinige Psychotherapie bei Geschlechts­dys­phorie)”.

Zudem enthält der S2k-Leitlinienentwurf folgende konsensbasierte Empfehlung bzw. Warnung:

„Psychotherapeutische Unterstützung soll Behandlungssuchenden als Unterstützung und Begleitung z. B. zur ergebnisoffenen Selbstfindung, zur Stärkung des Selbstvertrauens, zur Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen oder zur psychischen Vor- und Nachbereitung von Schritten im Prozess einer Transition niedrigschwellig angeboten und verfügbar gemacht werden. Eine Verpflichtung zu Psychotherapie als Bedingung für den Zugang zu somatomedizinischer Behandlung ist aus Gründen des Respekts vor der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt.” (S. 90)

Aus dieser Passage muss ebenfalls geschlossen werden, dass Psychotherapie vor bzw. ohne med. Transitionsprozess nicht empfohlen wird bzw. ggf. gar nicht genehmigungsfähig ist? Dies wäre dann ebenfalls eine stark abweichende Position gegenüber den Empfehlungen von Hilary Cass.

*) Evidenz

Carl Heneghan, Direktor des Zentrums für evidenzbasierte Medizin der Universität Oxford, sagt zur Rolle von Evidenz bezüglich Leitlinien:

'There’s no such thing as ‘not enough evidence to do a systematic review,’ because what you do is set out a question and try to find all the available evidence.' If a review finds only low certainty evidence, he says, the recommendation should be to 'pursue treatment in the context of a research study addressing the uncertainties' – otherwise, patients will continue to have limited evidence to inform their decisions.' A guideline written without a systematic review 'invalidates the guideline as far as I’m concerned,' as without a rigorous appraisal of the evidence 'it comes down to opinion and dogma.'

Dispute arises over World Professional Association for Transgender Health’s involvement in WHO’s trans health guideline, J. Block, BMJ, 30.10.2024

Obwohl die Evidenz für die Psychotherapie bei Genderdysphorie durchweg von geringer Qualität ist, ist immerhin das Nutzen-Risiko-Verhältnis positiver als bei medizinischen Maßnahmen zur Transition. Die Standards der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Entwicklung von Leitlinien erlauben es, Behandlungen auf der Grundlage von Evidenz geringer Qualität zu empfehlen, wenn

  • das Risiko gering ist und
  • alternative Behandlungen ebenfalls nur durch Evidenz geringer Qualität gestützt werden und mit höheren Risiken verbunden sind.

WHO handbook for guideline development [Internet] 2nd ed. Geneva, World Health Organization, 2014

 

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