England: NHS legt Plan zur Umsetzung der Cass-Review vor

Der NHS, Englands staatl. Gesundheits-Dienstleister, hat einen detaillierten Plan veröffentlicht, wie die Empfehlungen des Cass-Berichtes zur Versorgung Minderjähriger in einer Gender-Notlage in den nächsten 2 Jahren umgesetzt werden sollen. Ziel ist die vollständige Umsetzung der Empfehlungen um eine sichere, bedarfsgerechte und ganzheitliche Versorgung zu gewährleisten.

Cass, weiterhin als Sonderberaterin tätig, schreibt in der Einführung:

„Those services will take a holistic approach to care which addresses the needs of each individual and will put in place a full package of care which can be delivered as close to home as possible."

Nach den beiden neuen Gender-Diensten soll in jeder der 7 Regionen Englands ein spezialisierter Gender-Dienst mit Sitz in einem Kinderkrankenhaus eingerichtet werden. Die Warteliste soll damit aufgelöst werden. Die jeweilige klinische Gesamtverantwortung für die Patientensicherheit eines Dienstes wird ein Arzt oder eine Ärztin haben.

In einer überarbeiteten Leistungsbeschreibung werden u. a. die Zugangsregelungen neu festgelegt.

Weitere wichtige Aspekte sind:

  • Einrichtung eines weitreichendes Forschungsprogramms zur Erweiterung der Evidenzbasis (insbesondere PB und CSH). Künftige Forschungsstudien werden auch eine wissenschaftliche Bewertung psychosozialer Interventionen beinhalten.
    Prof. Emily Simonoff wird die leitende Forscherin für die Studie sein. Das Studienprotokoll soll bis Dezember 2024 fertig-gestellt sein, und vorbehaltlich der akademischen Genehmigung wird sie Anfang 2025 beginnen.
  • Alle Minderjährigen sollen eine ganzheitliche Bewertung ihrer Bedürfnisse erhalten, um einen individuellen Versorgungsplan zu erstellen, Insbesondere soll diese ein Screening auf neurologische Entwicklungsstörungen (inkl. ASS) und eine Beurteilung der psychischen Gesundheit beinhalten.
  • Es sollen standardisierte, evidenzbasierte psychologische und psychopharmakologische Behandlungsansätze eingesetzt werden, um die Bewältigung der damit verbundenen Probleme und Begleiterkrankungen zu unterstützen. Dies sollte gegebenenfalls auch Unterstützung für Eltern/Betreuer und Geschwister umfassen.
  • Allen, die sich einer medizinischen Behandlung unterziehen, soll zuvor eine Fruchtbarkeitsberatung angeboten werden.
  • NHS England hat vom Cass-Review-Team die Verantwortung für die Durchführung einer Studie übernommen, die die Daten der vom ehemaligen Tavistock GIDS bereitgestellten Dienste mit einem Datensatz für Erwachsene verknüpft.
  • Definition eines Behandlungs-Pfades für Detransitionierte

Außerdem hat der NHS damit begonnen, mit potenziellen Partnerorganisationen die Möglichkeit zu prüfen, einen Folgedienst für 17- bis 25-Jährige als Pilotprojekt zur Evaluierung einzurichten.

Es sollen Maßnahmen und gesetzliche Lösungen entwickelt werden, um eine unangemessene Verschreibung von Pubertätsblockern im Ausland zu verhindern.

Children and young people’s gender services: implementing the Cass Review recommendations, NHS, 07.08.2024

Hilary Cass benennt in einem Leitartikel erneut die außergewöhnlichen Herausforderungen, Dienstleistungen für genderdysphorische Jugendliche anzubieten. Sie benennt verschiedene Dilemmata, u. a. die Rolle der Pubertät bei der psychosexuellen und bei der Identitäts-Entwicklung:

„That puberty and adolescence are times of rapid change, development and emotional challenge is beyond dispute. During this period body image becomes a major preoccupation and can have either positive or negative impacts on mental health. Young people start to explore their sexuality and to understand their sexual orientation. Peers have an increasing influence and parents a lessening influence.”

Gender identity services for children and young people: navigating uncertainty through communication, collaboration and care, H. Cass, 06.09.2024

Sind die Cass-Empfehlungen für Deutschland 'kalter Kaffee'?

Prof. Dr. Romer, gender-affirmativer Versorger (UKM Münster, CTH) und Koordinator der geplanten Leitlinie für GD-Minderjährige, suggeriert am liebsten, dass der Affirmation-Only-Trend weiter wie bisher verfolgt werden könne. Im Spiegel-Interview (23.04.2024) unter dem Titel „Muss sich die Therapie von trans Jugendlichen in Deutschland ändern?" versucht er die Relevanz der Cass-Empfehlungen für Deutschland herunterzuspielen:

„Alle wichtigen Empfehlungen des »Cass Reports« waren uns aus Vorveröffentlichungen bereits bekannt und wurden entsprechend eingehend in der Leitlinie berücksichtigt. Die graduellen Unterschiede der Empfehlungen des Reports zu unseren Empfehlungen werden teilweise aufgebauscht. Es gibt sehr viele Übereinstimmungen in unserer Leitlinie mit den Cass-Empfehlungen, insbesondere, was die Notwendigkeit einer angemessenen psychotherapeutischen Versorgung von Jugendlichen angeht, die an einer Geschlechtsdysphorie leiden. Auch darin, wie komplex und herausfordernd verantwortungsvolle medizinische Entscheidungen in diesem Feld sind, besteht Einigkeit.” (Spiegel, 23.04.2024)

Die Behauptungen Romers im Spiegel-Interview entbehren größtenteils einer Grundlage, die meisten der genannten Maßnahmen in England gibt es beispielsweise in Deutschland in dieser Form nicht bzw. sind hierzulande auch nicht geplant. Für D-A-CH ist wie für England dieselbe unzufriedenstellende bzw. nicht schlüssige internationale Evidenzlage relevant. Mangels systematischer Recherche und Bewertung durch die Leitlinien-Kommission hat sie in mehr als 7 Jahren bedauerlicherweise nur eine S2k-Leitlinie mit lediglich konsensbasierten Empfehlungen zustande gebracht. Gehen wir einmal die o. g. Umsetzungsankündigungen des NHS durch:

  • Einrichtung eines weitreichenden Forschungsprogramms zur Erweiterung der Evidenzbasis. Dabei geht es insbesondere um klinische Studien zu Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen, künftige Forschungsstudien werden aber auch eine wissenschaftliche Bewertung psychosozialer Interventionen beinhalten.
    •  Solche Studien gibt es in D-A-CH nicht, sind auch nicht geplant.
  • Alle Minderjährigen sollen eine ganzheitliche Bewertung ihrer Bedürfnisse erhalten, um einen individuellen Versorgungsplan zu erstellen, Insbesondere soll diese ein Screening auf neurologische Entwicklungsstörungen (inkl. ASS) und eine Beurteilung der psychischen Gesundheit beinhalten.
    •  Teile davon sind im LL-Entwurf angedacht,

Es soll gezielt auf „Depression, Angststörung sowie auf selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität geachtet werden” (S. 76), der FoKus liegt aber nicht auf „ganzheitlich", sondern auf Genderdysphorie/Genderinkongruenz.

  • Es sollen standardisierte, evidenzbasierte psychologische und psychopharmakologische Behandlungsansätze eingesetzt werden, um die Bewältigung der damit verbundenen Probleme und Begleiterkrankungen zu unterstützen. Dies sollte gegebenenfalls auch Unterstützung für Eltern/Betreuer und Geschwister umfassen.
    •  Ist teilweise im LL-Entwurf angedacht, wobei der Behandlungsschwerpunkt im LL-Entwurf für D-A-CH auf medizinischen Maßnahmen liegt.
  • Allen, die sich einer medizinischen Behandlung unterziehen, soll zuvor eine Fruchtbarkeitsberatung angeboten werden.
    •  Ist im LL-Entwurf zwar vorgesehen,

in der kritischen Kommentierung von 14 Professoren der Kinder- und Jugendpsychiatrie heißt es jedoch:

„In Deutschland existieren derzeit keine etablierten Mindeststandards für eine Fertilitätsberatung bei betroffenen Minderjährigen mit GD (mit oder ohne ggfs. begleitende Psychopathologie). Weiterhin stellt sich auch hier die Frage, warum keine „muss“-Formulierung gewählt wurde.”

  • NHS England hat vom Cass-Review-Team die Verantwortung für die Durchführung einer Studie übernommen, die die Daten der vom ehemaligen Tavistock GIDS bereitgestellten Dienste mit einem Datensatz für Erwachsene verknüpft.
    • &nbps;GD-Behandelte wurden in D-A-CH nicht systematisch nachverfolgt, auch für die Zukunft ist keine Nachverfolgung geplant.
  • Definition eines Behandlungs-Pfades für Detransitionierte.
    •  Ist in D-A-CH derzeit unbekannt, aber auch nicht geplant.
  • Außerdem hat der NHS damit begonnen, mit potenziellen Partnerorganisationen die Möglichkeit zu prüfen, einen Folgedienst für 17- bis 25-Jährige als Pilotprojekt zur Evaluierung einzurichten.
    •  Ist in D-A-CH nicht vorgesehen.
  • Es sollen Maßnahmen und gesetzliche Lösungen entwickelt werden, um eine unangemessene Verschreibung von Pubertätsblockern im Ausland zu verhindern.
    •  In D-A-CH ist die Beschränkung von PB auf klinische Studien nicht vorgesehen.

Da PB zur GD-Standard-Behandlung zählen, wurde bisher noch nicht über Verschreibungen im Ausland nachgedacht.

Die Behauptungen des Leitlinien-Koordinators, die Empfehlungen des Cass-Reviews seien „eingehend in der Leitlinie berücksichtigt”, „die graduellen Unterschiede der Empfehlungen des Reports zu unseren Empfehlungen werden teilweise aufgebauscht” entsprechen also keineswegs den Fakten.

Der gravierendste Unterschied ist, dass sich England und die skandinavischen Länder von den WPATH-Empfehlungen und der gender-affirmativen Behandlung abwenden und die Leitlinien-Kommission diese für D-A-CH festschreiben will.

Warum täuscht Prof. Romer die Öffentlichkeit?

Auch die Bemerkung Romers im Spiegel „Es gibt sehr viele Übereinstimmungen in unserer Leitlinie mit den Cass-Empfehlungen, insbesondere, was die Notwendigkeit einer angemessenen psychotherapeutischen Versorgung von Jugendlichen angeht, die an einer Geschlechtsdysphorie leiden.” versucht mehr zu verschleiern als zu analysieren.

Aus unserer Sicht stellt sich der Vergleich des S2k-Leitlinienentwurfs mit den Cass-Empfehlungen im Punkt „angemessene psychotherapeutische Versorgung von Jugendlichen” ganz anderes dar:

Während in England (und in den nordischen Ländern Europas) bei Teenagern die Behandlung zusätzlicher psychologischer Probleme, psychosoziale Betreuung und eine explorative Psychotherapie die Maßnahmen der ersten Wahl (Primärtherapie) geworden sind, hat Psychotherapie im S2k-Leitlinien-Entwurf eine ganz andere Rolle, nämlich die der affirmativen Begleitung der medizinischen Transition. So formulierte es auch Prof. Pauli (Mitglied der LL-Komission) beim Press-Briefing zum S2k-Leitlinien-Entwurf:

„Es ist ja so, dass Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie keine psychischen Erkrankungen sind und entsprechend gibt es zunächst mal keine Indikation für eine Psychotherapie. Natürlich kann eine psychotherapeutische Prozessbegleitung aber für diese gendernonkonformen Kinder und Transjugendlichen sehr sinnvoll sein.” (20.03.2024)

Psychotherapie als alleinige Behandlung von GD/GI wird von gender-affirmativen ExpertInnen vielfach als „wirkungslos" bezeichnet. So heißt es auch im LL-Entwurf (Fußnote S. 109) pauschal ohne jegliche Referenz „nach aktueller Erkenntnis wirkungslosen Therapie (alleinige Psychotherapie bei Geschlechtsdysphorie)”.

Zudem enthält der S2k-Leitlinienentwurf folgende konsensbasierte Empfehlung/Warnung:

„Psychotherapeutische Unterstützung soll Behandlungssuchenden als Unterstützung und Begleitung z. B. zur ergebnisoffenen Selbstfindung, zur Stärkung des Selbstvertrauens, zur Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen oder zur psychischen Vor- und Nachbereitung von Schritten im Prozess einer Transition niedrigschwellig angeboten und verfügbar gemacht werden. Eine Verpflichtung zu Psychotherapie als Bedingung für den Zugang zu somatomedizinischer Behandlung ist aus Gründen des Respekts vor der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt.” (S. 90)

Aus dieser Passage muss ebenfalls geschlossen werden, dass Psychotherapie vor bzw. ohne med. Transitionsprozess nicht empfohlen wird bzw. ggf. gar nicht genehmigungsfähig ist? Dies wäre dann ebenfalls eine stark abweichende Position gegenüber den Empfehlungen von Hilary Cass.


Der 2-Jahres Plan des NHS

Implementing the Cass Review, mit Grafiken

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S2k-LL: Warum lehnen PsychologInnen ROGD-Teenager ab?