Die Angst vor der Wahrheit
Die meisten Eltern wundern sich, dass ihre transidentifizierten Teenager, so aufgeweckt oder gar erkennbar intelligent sie auch sind, keine Studien zu den Risiken von medizinischen Maßnahmen lesen bzw. akzeptieren wollen oder überzeugt sind, dass sie nicht davon betroffen sein werden. Auch Fragen zur medizinischen Versorgung, dem zukünftigen Lebensweg als Trans* und den aktuellen Emotionen werden in der Regel konsequent abgewehrt und verdrängt.
Roberto D'Angelo, Psychiater und Psychotherapeut, erläutert aus psychoanalytischer Sicht,
- warum viele genderdysphorische junge Menschen vieles, vor allem auch über sich selbst, „nicht wissen wollen.“
- warum gleichzeitig offensichtlich viele Fachleute die mit der Transidentität eines jungen Menschen einhergehenden Konstellationen nicht zur Kenntnis nehmen und nichts über die Ursachen der Notlage erfahren wollen.
Do we want to know? Roberto D'Angelo, 27.09.2024
Im soziopolitischen Diskurs über Gender-Fragen haben sich leider Einschränkungen etabliert, so dass bestimmte Fragen nicht gestellt werden sollen.
„There is a prohibition on knowing wherein certain zones are kept 'off limits' to exploration and thinking. Nothing is surprising about the existence of prohibitions on knowing in individual analytic work: they are arguably a fundamental aspect of the functioning of human subjectivity.“
Das Thema Trans* wurde über viele Jahre politisiert:
„However, we are currently immersed in a wave of political activism that regulates how gender identity can be understood – allowing a certain discourse and prohibiting others. Questioning why someone feels such unbearable distress that hormonal and surgical intervention seems like the only solution is framed by advocates as transphobic and a disguised form of conversion therapy“
Ist es Angst vor der Wahrheit?
Informierten Eltern von transidentifizierten Teenagern fallen sofort etliche Punkte ein, die mit Angst vor der Wahrheit erklärt werden könnten.
- Werden keine Langzeitstudien durchgeführt, weil befürchtet werden muss, dass die medizinische Transition zu häufig nicht langfristig hilft?
- Wird Psychotherapie fälschlicherweise als Konversionstherapie und „Zugangskontrolle“ diffamiert, weil die trans-affirmative Versorgung der schnellere und für Fachleute lukrativere Weg ist?
- Oder wird Psychotherapie als Primärtherapie als „wirkungslos“ bezeichnet, weil man als Experte selbst keine zufriedenstellen Resultate mit psychotherapeutischer Behandlung von genderdysphorischen jungen Menschen erreichen konnte?
- Oder weil die Erkenntnisse des Klienten für Psychotherapeuten selbst bedrohlich sind und daher schwer zu handhaben sind?
- Oder weil die Bedeutung der geringen Evidenzbasierung der trans-affirmativen Versorgung bei gleichzeitig schwerwiegenden Risiken eine andere wäre, wenn es praktisch keine „alternativen Behandlungsmöglichkeiten“ gäbe?
- Könnte die Trans-Identifizierung sich als vorübergehend erweisen, wenn im Einzelfall erforscht werden kann, wofür sie eine Bewältigungsstrategie ist?
Der weitverbreiteten Ansicht, dass Gender-Dysphorie keine psychische Krankheit ist und daher keiner psychotherapeutischen Behandlung bedürfe, stehen die tiefgreifenden Folgen medizinischer Transitionseingriffe gegenüber, deren Notwendigkeit oder Verlangen vermutlich doch besser umfassend geklärt sein sollte.
Angesichts der schwachen Evidenzbasis und der weitreichenden Folgen gender-affirmativer Eingriffe kann eine Psychotherapie hilfreich sein, um zu einer fundierten Entscheidung dafür oder dagegen zu kommen.
„A psychoanalytic process is arguably the best and only way to explore whether trans identification is a carrier or proxy for other difficulties.“ (D'Angelo)
Solide Psychotherapie bei genderdysphorischen Jugendlichen kann aufwendig sein
Roberto D'Angelo erläutert die Gründe, warum es für Jugendliche, die sich als transidentifiziert identifizieren, schwierig ist, eine Psychotherapie als erste Behandlung zu beginnen [und durchzuhalten]. Außerdem geht es um die Denkweisen, die diese Jugendlichen mitbringen, wenn sie sich für eine Therapie entscheiden.
„It may be that the spoken narrative, or the preoccupying symptom, obscures what is going on, diverting both the patient and the therapist away from more painful but crucial issues. Equally important is the power of psycho-analysis to deconstruct the fixed ways in which we have come to understand ourselves. This is particularly important for young people with gender dysphoria, who often present with a constrained, one-dimensional narrative account of the nature of their difficulties: that their sex is the problem and that changing the body is the singular solution. “
Genderdysphorie verlangt intensive Psychotherapie und fähige PsychotherapeutInnen – aus den Fallbeschreibungen der Beiträge von D'Angelo lässt sich grob ableiten, dass eine Intensität über mind. 18 Monate bei einer Frequenz von 2 bis 4 Meetings/Woche benötigt wird.
Da es keine Biomarker gibt und Experten auch keine Prognose stellen können, ob jemand wirklich von der Transition profitieren wird, resümiert D'Angelo:
„A psychoanalytic process is arguably the best and only way to explore whether trans identification is a carrier "For proxy for other difficulties (for example, see Bell 2020; D’Angelo 2020a, 2020b; Evans and Evans 2021; Harris 2022; Korte and Gille 2023; Lemma 2018; Lemma and Savulescu 2023), in which case medical/surgical interventions would be a diversion that leaves the core problems unaddressed."
Die heutige Psychotherapie ist keine Konversionstherapie
PT wird häufig fälschlicherweise oder aus ideologischen Gründen als Konversionstherapie abgewertet. Selbst Fachleute wissen oft nicht genau oder wollen es nicht wissen, wie Psychotherapeuten heute arbeiten, um gemeinsam mit dem Betroffenen die individuellen Hintergründe, die bei der Transidentifizierung eine Rolle spielen können, aufzuklären.
„However, our current health care system and popular discourse have increasingly rejected the notion that psychotherapeutic exploration is an essential aspect of the clinical response to young people with trans identities.“
Leider wollen die meisten Fachleute nichts über genderdysphorische Menschen wissen
Sie lehnen üblicherweise die Vorstellung ab, dass psychotherapeutische Prozesse ein wesentlicher Aspekt der klinischen Versorgung sein sollten, wenn junge Menschen sich transidentifizieren und medizinisch transitionieren wollen. Diese Überzeugung betrifft insbesondere Erwachsene, leider aber auch Minderjährige (s. S2k-Leitlinie für U18-KiJu, 2024). Lediglich als Unterstützung der trans-affirmativen Versorgung wird Psychotherapie als nützlich erachtet.
Ausgehend von der Behauptung, dass Transidentität eher angeboren und fix ist, wird in der Regel argumentiert, dass Psychotherapie überflüssig sei oder nur zur „Zugangskontrolle“ für medizinische Maßnahmen bei genderdysphorischen Menschen diene. Es wird sogar von „Zwangs-Psychotherapie“ gesprochen, wenn es um die von den gesetzlichen Krankenkassen geforderte Anzahl von PT-Stunden als Voraussetzung für medizinische Maßnahmen geht. Betroffene müssten nach Ansicht trans-affirmativer ExpertInnen nur medizinisch „versorgt“ werden, dann könnten sie ein glückliches Leben führen.
De facto kann aber kein Experte prognostizieren, ob jemand von einer medizinischen Transition profitieren wird, d. h., deutlich besser mit seiner Gendernotlage zurecht kommt. Die steigende Zahl von Detransitionierten stellt die Auffassung von „born that way" und „fix" infrage. Eltern fragen sich, warum es falsch sein soll, wenn die gesetzlichen Krankenkassen medizinische Maßnahmen als „ultima ratio“ definieren, die erst dann zum Zuge kommen sollten, wenn nicht-invasive Therapien ausgeschöpft sind.
Was ist mit den Studienergebnissen, dass die Mehrzahl der ursprünglichen Genderprobleme im Erwachsenenalter auch ohne medizinische Maßnahmen verschwindet (Rawee, 2024, Bachmann, 2024)?
Fazit von D'Angelo
„Psychoanalysis has arguably never had to grapple with social changes that are both so dizzyingly rapid and so intensely politicised. Whilst prohibitions on knowing are ubiquitous in psychic life, the zones of unconsciousness that clinicians encounter when working with trans youth are particularly challenging because they are maintained on multiple interacting levels:
- the intrapsychic, the socio-political and within some contemporary psychoanalytic theory. The result is that any sense of alarm about the harms of medical gender-affirming interventions is kept out of consciousness, and any curiosity about whether gender transition might be a risky and drastic solution to various forms of psychic pain is foreclosed.
- This reverberates with and reinforces the individual defences against knowing painful, unformulated or traumatic material that our patients present us with in analytic work.
- In the emotionally charged political climate surrounding trans issues, can we think about these issues without being overwhelmed by powerful affects ourselves?
- Are these conversations so threatening that they can only occur backchannel rather than openly in our professional listservs and journals?
- Do we want to know?"
Förderung der Autonomie bei jungen Menschen mit Genderdysphorie
D'Angelo beschreibt in einem weiteren Beitrag die Möglichkeiten von Psychotherapie als eine verfügbaren Alternative zum gender-affirmativen Vorgehen bei Genderdysphorie (GD).
„Psychotherapy does not impose restrictive gender stereotypes, as is sometimes claimed, but critically examines them. It empowers young people to develop creative solutions to their difficulties and promotes agency and autonomy.“
Der explorativ psychotherapeutische Prozess kann dazu beitragen, herauszufinden, ob GD ein Träger für andere, nicht erkannte Probleme ist.
„Psychotherapy can therefore make a significant contribution to the optimal, ethical care of gender-dysphoric young people by ensuring that patients make appropriate, informed decisions about medical interventions which carry risks of harm and have a contested evidence base."
Supporting autonomy in young people with gender dysphoria: psychotherapy is not conversion therapy, R. D'Angelo 24.10.2023
Alle Familienmitglieder haben ein Recht auf eine eigene Meinung
Gender-Probleme sind häufig in komplexe psychosoziale, familiäre oder entwicklungsbedingte Probleme eingebettet, oder sie sind ein Bewältigungsmechanismus für etwas anderes.
Erfahrungsgemäß gestalten sich familiäre Beziehungen harmonischer, wenn alle im häuslichen Umfeld das TABU zum Thema Trans* wahren. Der transidentifizierte Teenager macht auf diese Weise allerdings keine Fortschritte in seiner Entwicklung, die innerfamiliären Beziehungen sind oberflächlicher, viele Eltern bezeichnen die Situation als belastenden „Eiertanz“. Familien können dieses Problem entschärfen, wenn sie sich beispielsweise im Rahmen einer Familientherapie mit den schwierigen Themen auseinandersetzen. Das „Outsourcing“ von Auseinandersetzungen in familientherapeutische Settings unter Moderation eines Familientherapeuten erweist sich psychohygienisch in Bezug auf das häusliche Familienleben oft als gute Lösung.