Ohne ideologische Brille ist ROGD ein affektiv-perzeptives Problem
In einem neuen Beitrag der Zeitschrift Psychodynamic Practice setzt sich Jaco van Zyl (klinischer Psychologe, Irland) kritisch mit der Rolle bzw. Funktion von Psychotherapie in der gender-affirmativen Versorgung auseinander. Er fordert, die ideologische und teilweise politische Vereinnahmung von Psychologie und Medizin beim Thema Genderdysphorie (GD) beiseite zu lassen und die jugendliche Gender-Notlage als affektiv-perzeptive Körperbildstörung zu verstehen, die mit anderen Wahrnehmungsstörungen, wie Magersucht, BIID, BDD, Muskeldysmorphie und Pseudocyesis in einer Reihe steht.
Van Zyl zeigt aus psychoanalytischer Perspektive, wie sich affektiv-perzeptive Körperbild-Probleme entwickeln können. Schließlich weist er auf die Grenzen gender-affirmativer Ansätze hin und begründet, warum die explorative Psychotherapie die nuanciertere und ethischere Alternative darstellt.
In der Einleitung seines Beitrags fasst van Zyl zusammen, warum er sich speziell mit der Rolle und Funktion von Psychotherapie im Rahmen der sog. gender-affirmativen Versorgung befasst und welche Behandlung er für angemessen hält:
- „Dazu stelle ich erstens den psychoanalytischen Hintergrund des Entwicklungsverlaufs des individuellen Subjekts dar, das sich in der komplexen Spannung zwischen Realitäts- und Lustprinzip bewegt. Ich verwende Freudsche und Bionsche Konzepte der psychologischen Reifung, um zu zeigen, wie sich affektive Wahrnehmungsstörungen, die den Körper betreffen, entwickeln können.
- Zweitens untersuche ich, wie und warum die Gender-Notlage in diese psychologische Formulierung passt und daher zu den affektiven Wahrnehmungsstörungen, die den Körper betreffen, gezählt werden sollte.
- Drittens argumentiere ich, dass die gender-affirmative Psychotherapie fälschlicherweise auf Genderdysphorie angewandt wird, da diese Therapie die Psychodynamik, die dem Zustand zugrunde liegt, nicht angemessen berücksichtigt.
- Viertens zeige ich auf, wie die gender-explorative Psychotherapie die Auflösung von maladaptiven Abwehrmechanismen und die Wiederaufnahme der psychologischen Reifung erleichtert. Ich schließe mit dem Argument an, dass die explorative Psychotherapie den im Cass Review hervorgehobenen Behandlungsbedarf erfüllt.”
Nicht nur Eltern, sondern auch Fachleute fragen schon seit Jahren, warum GD völlig anders behandelt wird als die anderen affektiv-perzeptiven Probleme, geht es doch immer um „schweren emotionalen Stress mit irgendeinem körperlichen Merkmal als Ziel des Stresses und um eine verzerrte Wahrnehmung des körperlichen Zustandes oder Merkmals in Form einer Illusion.”
Warum gilt bei den anderen Körperbildstörungen intensive Psychotherapie als bewährte Behandlung der Wahl, während Psychotherapie als Primärtherapie bei ROGD in Deutschland als kontraindiziert und wirkungslos bezeichnet wird, die nur als Begleittherapie gegebenenfalls geeignet sein soll (s. S2k-Leitlinienentwurf)?
„In order to address the needs of gender dysphoric individuals - minors in particular - in an ethical and responsible way, psychologists and psychotherapists need to draw a clear distinction between ideology and scientific theorising. To this end, psychoanalysis can be a valuable aid in positioning gender dysphoria as an affective-perceptual disturbance involving the body.”
Alle Körperbild-Wahrnehmungsprobleme werden beispielsweise von affektiven Komponenten wie Depressionen und Ängsten begleitet und führen zu erheblichen Beeinträchtigungen des täglichen Lebens. Zyl zeigt anhand psychoanalytischer Theorien von Sigmund Freud und Wilfred Bion eindrucksvoll, wie sich Körperbildstörungen entwickeln können und dass es Abwehrstrategien sind, um den zugrundeliegenen Stress zu bekämpfen. Auch wenn die Notlage oft körperlich empfunden wird und der Körper als "scheinbare Quelle des Kummers zum Ziel der Veränderung" wird, so fehlen doch eher psychologisch geeignete Denkmuster, der emotionalen Not zu begegnen. Es bleibt die Frage, ob die Erleichterung in der Veränderung des physiologisch gesunden Körpers die langfristig tragfähige Lösung ist.
Van Zyl listet die Grenzen der gender-affirmativen Psychotherapie auf, auch von "affirmativer Echokammer" und von „Kunstfehler" ist die Rede. Die Gender-Notlage wird von den gender-affirmativen ExpertInnen als die Ursache psychischen Leidens interpretiert und nicht als Symptom tieferliegender ungelöster Probleme.
„Gender-affirmative psychotherapy seems to collude with primitive defences that keep the individual in a frozen psychological state. ... Resorting to irreversible hormone and surgical interventions, particularly in minors, are attempts at cementing such defences. ... Affirmative psychotherapy violates the bedrock principle of psychoanalysis and psychotherapy, namely to adequately integrate the reality principle amidst the protests and anguish of an ego yearning for the pleasure principle.”
V. Zyl begründet, warum die explorative Psychotherapie die nuanciertere und ethischere Alternative der Behandlung von ROGD darstellt, die Erkundungstherapie sei eine Wiederaufnahme der psychologischen Integration und Entwicklung, die „aufgrund maladaptiver Abwehrstrategien" vorzeitig gestoppt wurde - beispielsweise durch:
- „Bindungskomplikationen und traumatischer Schock (Kozlowska u. a., 2021),
- kontraproduktive Bewältigungsmechanismen (Evans, 2022),
- Sozialisationsschwierigkeiten (Shrier, 2020),
- inhärente Schwierigkeiten mit der Symbolisierung (Warrier u. a., 2020),
- unerforschte und unintegrierte Homosexualität. (Singh u. a., 2021).”
„Responsible, healing psychotherapy ... aims at addressing the above impediments to psychological and relational maturing. It involves exploring what the child, adolescent or adult finds difficult to accept about themselves, and why.”
Der explorative Ansatz beinhalte eine neugierige und ergebnisoffene Erkundung der Erfahrungen und Gefühle des Einzelnen und nicht eine vorauseilende Bestätigung der zum Ausdruck gebrachten Genderidentität.
Jaco van Zyl sieht aber auch die Schwierigkeiten für eine ethische und verantwortungsvolle Behandlung von Heranwachsenden mit Gender-Problemen.
„The current social climate wherein gender dysphoric youth are zealously affirmed and therapists are intimidated to do the same, ‘the individual in analysis is encouraged to idealise their own inclinations and phantasies (Chasseguet-Smirgel, 1985, p. 90).”
„Psychological maturation can be critically stifled if the individual finds themselves in an environment that rewards maladaptive adjustments. This may take the form of popular culture, social media, radical activist groups, troublesome peers, an overly permissive parent, or a colluding health professional.”
Ziel der explorativen Psychotherapie sei es, die Realitäten der menschlichen Existenz zu integrieren und trotz dieser Realitäten so sinnvoll wie möglich zu leben.
„[Psychoanalysis/psychotherapy] cannot return us to the omnipotence which we experienced as a foetus or infants, when we felt that we were the centre of the world. Psychoanalysis can allow us greater access to potential capacities, but only within the relatively limited constraints of the human condition. (Chasseguet-Smirgel & Grunberger, 1986, p. 14)”
Der Beitrag von Jaco van Zyl enthält eine Fallvignette eines Jungen, der sich mit 13 Jahren plötzlich für nichtbinär hielt, weil er seine Kindheit nicht verlassen wollte und weil er u. a. „in seiner unmittelbaren Umgebung ungünstige Beispiele von Männlichkeit" erlebte.
Hilary Cass empfiehlt Gender-Leiden zu verstehen und zu erforschen. Sie sollen weder bestätigt noch gezielt verändert werden. Dieser Artikel ist ein wichtiger Impuls für dieses explorative Vorgehen, er bietet eine theoretische Grundlage, die auf den Perspektiven psychoanalytischer Theoretiker beruht.
Formulating gender dysphoria as an affective-perceptual disturbance involving the body, J. v. Zyl, 27.06.2024
Joseph Burgo
Joseph Burgo (Psychotherapeut in Kalifornien und Supervisor bei TherapyFirst), der seit vielen Jahren genderdysphorische Jugendliche, Transsexuelle und Detransitionierte in seiner psychotherapeutischen Praxis betreut, sagt, dass es eine vernünftige gender-affirmative Psychotherapie gar nicht geben könne.
„I can state quite confidently that gender-affirming care is not psychotherapy. Based on an unevidenced belief in the concept of an innate “gender identity,” this approach is entirely incurious and doctrinaire. With one bald assertion, it halts exploration of the client’s understanding of herself and ignores every-thing we’ve learned about identity development from Erikson, Kohlberg, Vygotsky, Piaget and other theorists.”
„One of the more discouraging aspects of gender-affirming care is that it forbids curiosity. A child knows his or her gender identity, we are told. End of inquiry. Nothing more to be learned.”
Good Therapie: Answering Abigail Shrier, Joseph Burgo, 20.06.2024
GD und Anorexia nervosa bei ♀
Die MedizinerInnen Dr. Gille / Dr. Korte haben die Analogien von Genderdysphorie und Anorexia nervosa beleuchtet, beides körperdysphorische Störungen (insbesondere bei ♀), bei denen die Art der Bewältigung „eines subjektiven Überforderungserlebens während der Adoleszenz" zu Problemen führt.
Ein Drittel der Mädchen wünscht sich ein Junge zu sein (Gille/Korte)
GD und BDD
Prof. Dr. Veith Roessner und Dr. Gregor Kohls diskutieren, ob es gerechtfertigt ist, dass medizinische Körpermodifikationen bei Jugendlichen mit Genderdysphorie (GD) häufig empfohlen werden, während sie bei körperdysmorphen Störungen (BDD) als kontraindiziert gelten. In beiden Fällen geht es i.d.R. um invasive und nahezu irreversible Eingriffe am physisch gesunden Körper.
Bei der körperdysmorphen Störung sagt man also: auf keinen Fall operieren, du musst mit dem subjektiv erlebten Negativen lernen umzugehen. Denn es besteht die Gefahr, dass das eigentliche Problem bestehen bleibt und weitere Operationen gewünscht werden. Bei Genderdysphorie heißt es: operieren und das Geschlecht ändern, dann wird alles gut. Das meine ich mit logischem Widerspruch.
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