Immer mehr Fachleute tendieren bei GAT zur Vorsicht
Am 09.11.2022 fand eine interdisziplinäre psychiatrisch/psychotherapeutische Fachtagung zum Thema „Transgender-Jugendliche in der Kinder- und Jugendpsychiatrie" auf Einladung von Prof. Dr. Joh. Hebebrand, Direktor der Klinik f. Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am LVR-Klinikum Essen statt. Einige betroffene Eltern haben online daran teilgenommen, heute berichtet auch das Dt. Ärzteblatt darüber.
Wenn die Pubertas gestoppt wird - Transition bei Genderdysphorie, Dt. Ärzteblatt, M. Lenzen-Schulte, 02.12.2022
Offensichtlich mehren sich nun auch in Deutschland Stimmen, die zur Vorsicht bei der medizinischen Standard-Behandlung von Genderdysphorie (auch Gender Affirmative Treatment - GAT genannt) tendieren.
Prof. Dr. Florian Zepf
Prof. Dr. Florian Zepf, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Jena, trug vor, was er selbst zur derzeitigen Evidenzlage der Pubertätsunterdrückung und geschlechtsangleichen Hormongabe bei genderdysphorischen Kindern und Jugendlichen recherchiert hat, sein Fazit:
„Insgesamt ... war die Verlässlichkeit für die Aussagen – der Grad der Evidenz – sehr gering. Im Einzelnen ließ sich beispielsweise kein Einfluss auf das Körperbild und keiner auf die Zufriedenheit mit späteren operativen Eingriffen feststellen. Fasse man die Resultate zusammen, so sei deren klinischer Wert fraglich, die Veränderungen könnten auch durch andere Einflüsse (Confounder), durch Bias oder Zufall begründet sein.” (Dt. Ärzteblatt)
Zepf stellte außerdem infrage, ob ein „Informiertes Einverständnis bei Minderjährigen, die sich in einer Lebenskrise befinden“ vor dem Hintergrund der derzeitigen Evidenzlage, die „very low” sei, überhaupt möglich ist. (Folien v. Prof. Dr. Zepf / Notizen von Teilnehmenden)
Er sprach darüber hinaus die Problematik für Fachleute an, Jugendliche, die oft sehr leidend sind, aber auch sehr fordernd auftreten, sowie deren Familien, gründlich und ausreichend zu beraten. Manche lehnten zudem Diagnosen und Differenzialdiagnosen ab.
Prof. Dr. Georg Romer
Prof. Dr. Georg Romer, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, stellte in seinem Vortrag „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Aktuelle Paradigmenwechsel, ethische Maßgaben und Behandlungsempfehlungen” in den Vordergrund, dass die Vermeidung einer Pubertätsblockade für persistierende Transsexuelle auch ein Risiko habe, nämlich dass Zulassen der Entstehung ‚unerwünschter Körperveränderungen‘. Die Persistenz von Transsexualität bei Jugendlichen könne durch Fachleute eindeutig diagnostiziert werden. Bezüglich Pubertätsblockade konnte zwar nachgewiesen werden, dass sich Suizidgedanken beiden Betroffenen vermindern, nicht aber, ob die Zahl der Suizide tatsächlich abnimmt.
Dr. Alexander Korte
Dr. Alexander Korte, Leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU München, referierte „Entwicklungspsychiatrische Überlegungen zur Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen”. Auch Dr. Korte fehlt zur geschlechtsangleichenden Therapie die klare Evidenz. Pubertätsblocker sind höchstwahrscheinlich ursächlich, wenn Probleme mit der Knochengesundheit, Gewichtszunahme oder Typ-2-Diabetes auftreten, zudem ginge eine pubertätsblockierende Therapie, normalerweise (ca. 98 %) gefolgt von gegengeschlechtlichen Sexualhormonen „immer mit einem dauerhaften Verlust der reproduktiven Fähigkeiten einher”. Auch die klinische Evidenz für die Beeinträchtigung der sexuellen Funktionsfähigkeit, Anorgasmie nach geschlechtsangleichenden Therapien sei „erdrückend”, es fehlten aber auch hier mehr konkrete Studien.
Die Beeinflussung einer Pubertätsblockade auf die psychosoziale und neurokognitive Entwicklung ist ebenfalls ungenügend erforscht. Diskutiert werden in Fachkreisen IQ-Minderung, Kurzzeitgedächtnisprobleme, Beeinflussung der Emotions- und Verhaltenskontrolle, Beeinflussung des Langzeit-Raumgedächtnisses, etc.
Uneinigkeit der Referenten
Uneinig waren sich die Experten über die Zahlen, wie viele Betroffene die invasiven med. Interventionen wirklich benötigen und ob Komorbiditäten Genderdysphorie mitverursachen oder eine Reaktion auf die Gender-Dysphorie sind. Dr. Korte verwies darauf, dass etliche Transitionswünsche auch mit Problemen von Jugendlichen zusammen hingen, sich mit ihrer eigenen Homosexualität auseinander zu setzen.
Blick ins Ausland
Prof. Dr. Johannes Hebebrand in seiner Einführung und einige der Referenten während ihrer Vorträge sprachen zumeist in Nebensätzen an, dass es in manchen westlichen Ländern seit einiger Zeit deutliche Strategieänderungen bei der Behandlung gibt.
Martina Lenzen-Schulte würdigt im Dt. Ärzteblatt die Situation außerhalb Deutschlands in einem großen grauen Kasten „Blick ins Ausland", in dem sie zum einen einige Altersgrenzen für bestimmte med. Maßnahmen aus den WPATH SOC zitiert. Das ist insofern irritierend, als die allermeisten dieser Altersgrenzen in der neuesten Version der WPATH SOC8 vom Herbst 2022 schon gar nicht mehr enthalten sind, was die Freigabe von Altersgrenzen bedeutet.
WPATH SOC8 erschienen - Altersgrenzen wurden entfernt
Zum anderen wird kurz die Entwicklung in Ländern wie Finnland, Schweden, England, Florida, Frankreich angerissen, die "zunächst die Pubertätsblockade nach dem weithin übernommenen holländischen Modell liberal angewendet hatten, diese nun nicht mehr bei Kindern zulassen wollen oder die Hürden für deren Einsatz deutlich höher legen."
Für diese Korrekturen nennt das Dt. Ärzteblatt folgende Gründe:
- die wachsende Zahl Detransitionierter, von denen auch einige klagen.
- die bei Überprüfungen festgestellte geringe Evidenz der Behandlungen, d. h. es gibt ungeklärte Zweifel an deren Sicherheit
„Daher betonen inzwischen immer mehr Expertenempfehlungen, dass die Erstlinientherapie eine psychologische und psychiatrische sein müsse. Schließlich wird die Einsichtsfähigkeit der Betroffenen thematisiert. Bisher sei nicht untersucht, ob Kinder oder Jugendliche den Impact von Pubertätsblockern überhaupt verstehen könnten.” (Dt. Ärzteblatt)"
Leserforum zum Ärzteblatt-Artikel von M. Lenzen-Schulte, 2022
Deutschland - Wende oder weiter so?
Off-Label-Use
Ein Punkt, der für betroffene Eltern immer wieder zu diversen Fragen führt, wurde weder im Rahmen der Fachtagung noch im Beitrag des Ärzteblattes angesprochen: Die Verwendung von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen findet seit mehreren Jahrzehnten Off-Label statt.
Prof. Dr. Veit Roessner
Prof. Dr. Veit Roessner ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Dresden, in der zunehmend häufig Jugendliche das Thema Geschlechtsidentität ansprechen. Er berichtet in der FAS vom 13.11.2022 über steigende Anfragen für Gutachten bei immer jüngeren Jugendlichen, die medizinische Maßnahmen wünschen. Roessner warnt vor zu schnellem Handeln hinsichtlich der medizinischen Geschlechtsangleichungen:
„Es gibt überhaupt keine Datengrundlage, um diese Entscheidungen bei Kindern und Jugendlichen verantwortungsvoll zu treffen. Wir müssen dringend mehr in gute Forschung und Studien investieren.”
Hinter dem Trans*-Wunsch Jugendlicher steckt oft etwas anderes
Im neuen Cicero-Interview begründet Prof. Dr. Roessner seine Zurückhaltung hinsichtlich medizinischer Transitionsmaßnahmen noch unter einem anderen Aspekt:
„Was mich dabei auch stört, ist, dass das Thema Kinderwunsch in den Diskussionen viel zu kurz kommt. Mit 14 oder 16 Jahren denkt man noch nicht so darüber nach. Außerdem finde ich, dass die somatischen Nebenwirkungen von Pubertätsblockern oder den späteren Operationen überhaupt nicht ausreichend diskutiert werden. Da gibt es jetzt zum Glück auch ein paar mehr Studien, die zum Beispiel zeigen, wie hoch die Nebenwirkungsrate bei Operationen ist: für Sensibilitätsstörungen, für Inkontinenz und so weiter."
Gerade Mädchen in der Pubertät fühlen sich schnell als Außenseiterin, Cicero, 10.01.2023
Die Folgen drastischer „geschlechtsbestätigender” Operationen
„Der Grund, warum es so viele Probleme gibt, liegt darin, dass es sich um eine unglaublich schwierige Operation handelt. Junge, gefährdete Menschen müssen über die Herausforderungen, die nach der Operation auf sie zukommen, Bescheid wissen, aber nur wenige von ihnen wissen es.”
The hidden dangers of 'gender-affirming care', dailymail, 16.01.2023
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