Das Erinnerungs-Dilemma

Wer kennt es nicht? Seit unsere Teenager ihr Gender/Geschlecht infrage stellen, erinnern sie ihre Kindheit anders als wir Mütter und Väter, die ihr Leben bisher begleitet haben. Eltern ziehen oft Kindheits-Fotos und -Videos zu Rate und sie befragen Bekannte und Verwandte. Dennoch wird ihnen nicht unbedingt geglaubt, während ihre Kinder fast immer bestätigt werden.

Für TherapeutInnen kann es durchaus schwierig sein, wenn sie sich ein einigermaßen realistisches Bild von ihren genderdysphorischen KlientInnen machen wollen. Eltern und andere Personen, die die Teenager gut kennen, sollten daher unbedingt einbezogen werden.

Wie kann es dazu kommen, dass Menschen sich anders erinnern oder ihre Geschichte unbewusst neu erzählen? WissenschaftlerInnen gehen nicht davon aus, dass es sich um eine Gedächtnisstörung oder -überlagerung handelt, ihre Erkenntnisse gehen eher in die Richtung, dass Erinnerungen generell nicht besonders zuverlässig sind, sondern teilweise verzerrt und störanfällig.

Das sagt die Wissenschaft

Es ist völlig falsch, davon auszugehen, dass die menschliche Erinnerung wahr­heits­getreu und ver­lässlich ist, sodass vergangene Ereignisse genau wiedergegeben werden könnten.

„What memory research over the last six decades has revealed is that memory is reconstructive, highly malleable, and remarkably subject to distortion."

In einem neu erschienenen Beitrag beschreiben eine Kognitionswissenschaftlerin und ein klinischer Psychologe, was die Gedächtnisforschung durch Studien herausgefunden hat. Hier einige aufschlussreiche Punkte:

Es ist kompliziert

Es wurde beispielsweise herausgefunden, dass

„the current self–-with its associated characteristics, goals, and beliefs–-influences how individuals recall their pasts” (Wilson & Ross, 2001). Our identities as they exist in the present influence the memories we recall and how we may interpret them (Greenwald, Citation1981)."

Kognitive Dissonanz

Relativ bekannt ist die Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger 1957), die davon ausgeht, dass Nicht-Übereinstimmungen von Kognitionen, aber auch von Kognition und Verhalten bei Menschen Unbehagen verursacht. Das Unbehagen bei kognitiver Dissonanz treibe den Menschen an, eine der Kognitionen (z. B. Überzeugung oder Erinnerung) zu modifizieren oder zu verwerfen, um Konsonanz herzustellen.

„It is not difficult to extrapolate the findings of cognitive dissonance research to trans-identifying youth who may unconsciously revise some personal history to align their actual past with their present identity.”

Zudem haben ForscherInnen diverse kognitive Verzerrungen, d. h. unbewusste systematische Denkfehler festgestellt, die sie beispielsweise als Bestätigungsfehler, Verfügbarkeitsverzerrung oder Rückschaufehler nachgewiesen und beschrieben haben. Kognitive Verzerrungen können dem Einzelnen helfen, die Bildung und Bestätigung einer neuen kohärenten (stimmigen) Identität zu entwickeln.

Youth who have come to believe that they were born in the wrong body may selectively retrieve memories confirming their current self-image of a trans identity, interpreting and integrating these memories to be more consistent with their current schema of the self. Once that new identity has been formed, they believe that this was the case all along.

Es ist wahrscheinlich, dass sogar Informationen aus sozialen Medien, Tipps von Peers oder auch Berichte von Trans-Personen in aktuelle Erzählungen vergangener Ereignisse einfließen können. Die menschliche Erinnerung ist letztlich vielen Einflüssen und Verzerrungen ausgesetzt, wie z. B. Suggestion, Hörensagen, sog. Beweise.

„For the trans-identifying youth and affirming adults alike, the belief in the trauma of being born in the wrong body can bring coherence to their life narrative and explain their current pain and dysfunction. As trusted adults confirm this narrative, the new transgender self-schema is solidified and further used as a lens from which to understand one’s autobiographical memory.”

Verdrängte Erinnerungen

Ungeachtet wissenschaftlicher Forschung hatte sich in den 80er/90er Jahren selbst bei TherapeutInnen die Meinung verbreitet, dass Erinnerungen äußerst zuverlässig seien. Zudem vermuteten sie, dass bestimmte Probleme, wie die zu der Zeit sehr verbreitete Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) durch Missbrauch in der Kindheit verursacht sei. Sie suggerierten den Patientinnen einen Missbrauch in der Kindheit, den sie nur verdrängt hätten.

„Sadly, accusations based on unsubstantiated memories, highly likely to be false, tore families apart and sent innocent people to jail.”

Die Repressed Memories-Welle brachte unsägliches Leid in Familien. Erst durch Klagen von beschuldigten Angehörigen wurde deren Unschuld ermittelt und die Epidemie der „verdrängten Erinnerungen" sowie die Epidemie von MPS ebbte ab. [Aber selbst heute scheint eine deutsche Selbsthilfe-Initiative wie false-memory noch ihre Berechtigung zu haben.]

Damals (80er/90er Jahre) lautete die These der VerfechterInnen der mittlerweile diskreditierten Welle von „verdrängten Erinnerungen":

„Wenn du denkst, dass du missbraucht wurdest und dein Leben die Symptome zeigt, dann warst du es.“

Allerdings kennen wir heute bei Trans* Slogans wie:

„Wenn du dich als trans fühlst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du es auch bist.“ (TransHub)

Wiederholt sich hier ein Muster oder gar ein Skandal, wie wir ihn aus der Historie kennen?

Erinnerungen von Eltern gelten bei Genderdysphorie wenig

In der Forschung und zu Diagnosezwecken ist es durchaus üblich, die Aussagen von Eltern über die frühen Jahre ihrer Teenager zu sammeln und auszuwerten, wenn es beispielsweise um Autismus, ADHS und andere psychische Störungen geht.

Geht es um Eltern-Erinnerungen bei GD-Problemen ihrer Teenager, so werden diese vielfach pauschal und ohne nachvollziehbare Gründe als unzuverlässig bewertet, wie sich beispielsweise bei den Veröffentlichungen von Lisa Littman (2018) und später Bailey/Diaz (2023) gezeigt hat.

Mehr …

Zur Theorie der Gedächtnisforschung liefern die Kognitionswissenschaftlerin Chan K.-Moruzi (Toronto) und der klinische Psychologe Jerry Lawler noch Fallbeispiele. Außerdem enthält der Beitrag sehr ausführliche Erläuterungen, inwiefern die Aktivitäten von Jugendlichen in sozialen Medien reichlich Gelegenheit bieten, ihre autobiografischen Erinnerungen zu verzerren und Geschichten zu erzählen, die weit von der Realität entfernt sind.

Frailties of Memory: Implications for Therapists Treating Gender Dysphoric Youth, Ch. K. Moruzi, J. Lawler, 21.10.2024


Was ist Erinnerung?

Erinnerung ist wahrscheinlich eine Schnittmenge von

  • dem, was tatsächlich geschehen ist,
  • dem Teil, den jemand davon erinnert
  • plus einiges, das er gerne anderen von sich erzählt.

Transsexualität kann bei Demenz verloren gehen

Es gibt einige Beobachtungen, dass Menschen, die eine Demenz entwickeln, ihre Transsexualität zunehmend vergessen. Da das bei homosexuellen Dementen nicht vorkommt, liegt der Schluss nahe, dass Transsexualität nicht angeboren ist.

Dementia in transgender population: case vignette, 09.11.2021

Memory problems LGBTQ+ people with dementia may experience, 2021


Medizinfortschritt heute, Skandal morgen?

Trans* ≠ Homosexuell