Beyond NICE

Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der PB und CSH bei GD-U18

„Zwei Übersichtsarbeiten (eine zu PB, eine zu CSH) des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE) aus dem Jahr 2020 zeigten keinen eindeutigen klinischen Nutzen in Bezug auf kritische Zielvariablen sowie andere wichtige Variablen, insbesondere keine eindeutige Verbesserung der GD-Symptomatik. Weiterhin wurde die klinisch-wissenschaftliche Qualität der bis dahin vorliegenden Befunde gemäß Modified-GRADE-Kriterien als „sehr gering“ eingestuft."

Prof. Florian Zepf, Jena, hat mit seinen KollegInnen die seit den NICE-Reviews weltweit neu verfügbaren Studien erfasst und analysiert, um das Wissen zu dieser Thematik auf den neuesten Stand zu bringen. Die systematische Analyse ergab kaum Neues und Belastbares, sodass das klinisch-wissenschaftliche Vertrauen in die Ergebnisse weiterhin als gering bewertet werden muss.

„Die Studienlage zur PB- und CSH-Gabe bei Minderjährigen mit GD ist weiterhin sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit unzureichender Methodik und Qualität. Aussagekräftige Langzeitstudien fehlen bisher. Die aktuelle Studienlage deutet derzeit nicht darauf hin, dass sich die GD im Speziellen und die psychische Gesundheit im Allgemeinen im Verlauf der weiteren Entwicklung nach Gabe von PB oder CSH bedeutsam verbessern. Begleitende psychotherapeutische Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit GD zur Unterstützung bzw. zur Minderung der erlebten Belastungen können je nach individueller Situation der Betroffenen ggfs. notwendig werden. Sofern PB- und CSH-Gaben bei Minderjährigen mit GD nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Analyse, abgeschlossener kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik und ggfs. folgender Behandlung auch begleitender psychischer Symptome oder Störungen bzw. Belastungsfaktoren zum Einsatz kommen sollten, so kann ein solches Vorgehen im Rahmen von Forschungsprojekten bzw. klinischen Studien – wie aktuell in England praktiziert – zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen und wichtige Daten liefern."

Daher komme der psychologischen bzw. psychotherapeutischen Begleitung der Betroffenen eine besonders wichtige Rolle zu, speziell auch der Diagnostik und Differenzialdiagnostik. Letztautor Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann von der LWL-Universitätsklinik Hamm betonte, dass es darum gehe, den individuellen Leidensdruck der Heranwachsenden zu mindern.

"Solche Interventionen sind jedoch explizit nicht als eine Konversionstherapie mit dem Ziel einer Versöhnung mit dem biologischen Geburtsgeschlecht zu sehen.“

Interessanterweise war im Rahmen der NICE-Übersichtsarbeit zur Pubertätsblocker-Behandlung (NICE 2020a) auch der Aspekt der Kosteneffektivität betrachtet worden.

„Für eine Kosteneffektivität von GnRH-Analoga bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention fand sich keinerlei Evidenz.”

Schlussfolgerungen des Reviews zur derzeitigen Evidenzlage

Die AutorInnen der 'Beyond-Nice'-Studie stellen abschließend fest:

„Insgesamt ist die Evidenzlage bezüglich der Wirksamkeit einer Behandlung einer GD bei Kindern und Jugendlichen mit PB und/oder CSH im Sinne der Verhinderung der Verschlechterung der möglichen Effekte einer körperlichen Transition bzw. im Sinne des Beginns einer körperlichen Transition derzeit mangelhaft. Die Resultate der betreffenden NICE-Übersichtsarbeiten (NICE 2020a, 2020b) und unserer ergänzenden Literaturanalyse von seitdem veröffentlichen Studien mit PICO-Merkmalen lassen einen sicheren klinischen Nutzen hinsichtlich der hier betrachteten Zielvariablen für betroffene Minderjährige nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit nachweisen. Kontrollierte Langzeitstudien zu den positiven und negativen Wirkungen von PB und CSH auf psychische wie auch somatische Parameter bei Kindern und Jugendlichen mit GD fehlen bisher. Dies wirft die Frage nach dem Inhalt und dem evidenzbasierten Wert klinischer Schlussfolgerungen existierender Studienergebnisse zur PB- und CSH-Gabe auf. Dabei gilt es im Einzelfall zwischen einem möglichen „Schaden durch aktives Tätigwerden“ und einem „Schaden durch Abwarten“ im Rahmen eines dialogischen Prozesses und im Rahmen eines multiprofessionellen Diagnostik- und Behandlungskonzeptes abzuwägen. Orientierung geben können dabei die Entwicklungen in anderen europäischen und auch außereuropäischen Ländern."

In der Studie wird dann noch relativ ausführlich auf die Perspektive in anderen Ländern eingegangen.

Bezugnehmend auf die derzeit noch immer nicht veröffentlichten AWMF-S2k-Leitlinien, deren Empfehlungen vermutlich nicht auf der Basis von systematischen Reviews entstanden sind, heißt es:

„Mit Blick auf die sich derzeit in der Erarbeitung befindlichen AWMF S3-Leitlinie zur hier betreffenden Thematik bei Minderjährigen mit GD kann die aktuelle Evidenzlage zur PB- und CSH-Gabe berücksichtigt und in einen klinischen Kontext mit entsprechenden Empfehlungen für Kliniker/Innen überführt werden.”

Hinweis von TTSB: Ende Februar 2024 erfolgte im Rahmen des Abschlussreviews eine Abstufung der AWMF-Leitlinie für Kinder- und Jugendliche von der ursprünglich avisierten Klassifikation S3 auf die Klassifikation S2k, da den Empfehlungen vermutlich keine systematische Aufbereitung der Evidenz zugrunde liegt. Auch die Klassifikation S2e konnte nicht erreicht werden. Für die Klasse S2k reicht es aus, die Empfehlungen konsensbasiert abzustimmen, s. AWMF-Regeln für das Leitlinienregister.

Beyond NICE: Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade u. Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie, F. Zepf u. a., 27.02.2024, DE-, EN-

Transidentität bei Minderjährigen: Wenig Studien, wenig Evidenz, idw u. UniJena, EN-, 27.02.2024

Kehrtwende in Deutschland bei Pubertätsblockern? Amelung, 29.02.2024

Mama, ich bin jetzt trans‘ - Die Gefahren von Pubertätsblockern und Hormonen, Welt, A. Kröning, 01.03.2024

Evidenz ist nicht gleich Evidenz (Systematische Reviews = höchste Evidenz-Stufe)

Immer mehr Fachleute tendieren bei GAT zur Vorsicht

Gibt es auch in Deutschland ein Rollback?

Interessenkonflikte / Leitlinientätigkeit

Unter diesem Kapitel findet sich in dem Artikel, auf den in diesem Beitrag hingewiesen wird, folgendes zu Prof. Dr. med. Florian Daniel Zepf:

„FDZ: Von Mitte des Jahres 2020 bis Ende November 2022 Mitglied der Steuergruppe der AWMF-S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ (Register-Nr. 028–014). Aufgrund seiner berufsethischen Bedenken bezüglich ebendieser hier betreffenden S3-Leitlinie und ferner aufgrund von seinen Bedenken zu Aspekten eines profunden Kinder- und Jugendschutzes ebenso bezüglich dieser S3-Leitlinie hat FDZ seine Arbeit an dieser S3-Leitlinie beendet und die dazugehörige Steuerungsgruppe dieser Leitlinie verlassen."

Wer gehört noch zum Review-Team?

Außer Prof. Dr. Florian Zepf sind in den letzten Jahren weitere Autoren von „Beyond-NICE" zum Thema ROGD in Erscheinung getreten:

Veith Roessner

Prof. Dr. Veith Roessner, Lehrstuhl und Ärztlicher Direktor, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, TU Dresden

„Wir müssen dringend mehr in Transforschung investieren“, Nov 2022

Martin Holtmann

Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Bochum, Dr. Ärzteblatt

„Wir sind als Fach weit davon entfernt, eine stimmige und abgestimmte, konsentierte Orientierung zu bieten." ...

„Die Debatte wird nicht nur zwischen politischen Parteien und Interessengruppen, sondern auch in unserem Fach bisweilen bitterböse ausgetragen. Die divergierenden Expertenmeinungen spiegeln sich wider in der ungewöhnlich langen Dauer der Erarbeitung der S3-Leitlinie ‚Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter, Diagnostik und Behandlung‘ und der wiederholten Verschiebung von deren Fertigstellung.” ... Der Austritt von Mitgliedern aus der Steuerungsgruppe der Leitlinie mag als weiterer Indikator für die spannungsreiche Debatte und die kaum zu überbrückenden Differenzen gelten."

Der erschütternde Seismograf – Zur Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Transgender-Kontroverse, Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, M. Holtmann, 08.09.2023

Tobias Banaschewski

Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und Stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit

Genderdysphorie: Mehr Zurückhaltung bei der Therapie von Jugendlichen mit Pubertätsblockern, Dt. Ärzteblatt, 09.10.2023

Sind hochwertige klinische Studien zu Hormonen bei U18 überhaupt möglich?

In dem neuen Review von Zepf u. a. findet sich bei den Schlussfolgerungen auch wieder die häufig bereits von anderen geäußerte Forderung, PB und CSH nur im Rahmen von Forschungsstudien anzuwenden. Dabei wird auf England verwiesen, wo es angeblich so läuft oder laufen sollte. Wie realistisch ist es aber, dass irgendwo auf der Welt jemals solche Forschungsstudien stattfinden?

Sind solche hochwertigen klinischen Studien zu Hormonen, die wegen Genderdysphorie eingesetzt werden, bei Teenagern aus ethischen Gründen überhaupt möglich? Sind entsprechende klinische Studien zu gegengeschlechtlichen Hormonen jemals bei Erwachsenen durchgeführt worden? Wahrscheinlich nicht bzw. nicht in der Qualität, dass es für eine Arzneimittel-Zulassung gereicht hätte.

In einem Gespräch, das Kathleen Stock im Herbst 2023 mit einer Leiterin von NHS-Forschungsstudien führte, äußerte diese große Skepsis, dass eine ordnungsgemäße klinische Studie zu Pubertätsblockern jemals entsprechend den international anerkannten, nach ethischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten aufgestellten Regeln der Guten Klinischen Praxis durchgeführt werden könnte. Sie sagte Stock:

„Children get classed as a vulnerable group. They need to have very special protections, and the rationale is just not there. The possible impacts [of blockers] on a child are so high that the moment that this was recognised, the study would be shut down. If you had a healthy child, and you recognised that medication could confirm sterility issues, or fertility issues, or bone density issues, the trial would be stopped at that point. It would be completely insane to run such a trial.”

Inside Britain’s new trans clinics, Kathleen Stock, 19.10.2023

Wir haben nichts über Pubertätsblocker gelernt - Gids Kliniker haben ein Vakuum an Daten hinterlassen, S. Baxendale, 20.03.2024

Versuchskaninchen?

Bis heute sind vermutlich alle Jugendliche und junge Erwachsene „Versuchskaninchen", die sich in unkontrollierten Experimenten (off-label) auf Pubertätsblocker und gegengeschlechtliche Hormone einlassen, in der ungewissen Hoffnung, dass sich ihre Probleme vermindern. Das Dutch Protocol taugt nicht als Referenz für ROGD-Teens &Twens.

EU Clinical Trials Register

Bisher wurde noch von keinem Land eine klinische Studie zur Pubertätsunterdrückung mit GnRHa und zur Hormonbehandlung wegen Genderdysphorie angemeldet. Bei der Suche im EU Clinical Trials Register nach GnRHa werden 19 Treffer aufgelistet. Darunter ist aber keine Studie, die im Zusammenhang mit Genderdysphorie gemacht wurde oder geplant ist.

Suchergebnis im EU Clinical Trial Register nach "GnRHa"