Gibt es auch in Deutschland ein Rollback?

Im Dt. Ärzteblatt wird berichtet, dass in etlichen Ländern ein Wandel bezüglich der somato-medizinischen Therapie von Jugendlichen mit Genderdysphorie (GD) zu beobachten ist. Es wird erläutert, warum seit einiger Zeit bestimmte europäische Länder zurückrudern und einige US-Bundesstaaten die medizinischen Möglichkeiten stark einschränken.

Sollte es kurzfristig für Deutschland doch noch Hoffnung auf eine Art Rollback zurück zur Vorsicht geben? Tobias Banaschewski (Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und Stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim) nährt diese Hoffnung, nachdem anscheinend kürzlich eine Tagung mit Fachleuten aus den skandinavischen Ländern (S, F, N, Dk), England und den Niederlanden stattgefunden hat.

Hintergründe für den Wandel ist die mittlerweile gut dokumentierte Kritik an der Evidenzlage, insbesondere was die mangelhafte Methodik, Qualität und Aussagekraft der wenigen Studien angeht, die stets referenziert werden.

„Die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass diese Therapien eher nützten, als dass sie schadeten, sei nicht so robust, wie über viele Jahre hinweg proklamiert worden sei."

Zudem sind die Jugendlichen, die transitionieren wollen, heute von einem ganz anderen Typ als die Teilnehmenden der niederländischen Studien, z. B. überwiegend ♀, sie hatten keine GD in der Kindheit, allerdings diverse Komorbiditäten. Auch die Zahl der Detransitionierten scheint zu steigen.

So kontrovers wird die Behandlung von GD in Deutschland diskutiert

Außer Tobias Banaschewski gaben im Ärzteblatt 4 Psychiater­Innen/Psycho­therapeut­Innen, die Erfahrungen mit genderinkongruenten Teens haben, ihre Einschätzung zur Pubertätsblocker-Behandlung und zum Einfluss des Rollbacks anderer Länder auf die Praxis in Deutschland ab.

Sybille Winter (Berlin)

Sybille Winter (Leiterin der Kinderschutzambulanz und des Childhood-Haus Berlin) votiert für Pubertätsblocker als Notwendigkeit, um „Zeit zu gewinnen", die die Jugendlichen für Informationsgewinnung und Alltagstests benötigten. Sie wirft das Argument in den Ring, dass es langjährige Erfahrung mit diesen Hormonen bei Pubertas Präcox (vorzeitige Pubertät ohne Genderdysphorie) gäbe. Als Eltern fragt man sich allerdings, warum dann die Pubertätsblocker nicht für Genderdysphorie bzw. für die Altersspanne der natürlichen Pubertät zugelassen sind, sondern seit Jahrzehnten off-label eingesetzt werden.

Alexander Korte (München)

Alexander Korte (Leitender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, LMU-Klinikum München) folgt dem Prinzip „Primum non nocere", aus dem sich der Auftrag ergäbe, zunächst den Nutzen einer medizinischen Maßnahme zu belegen.

„Staatliche Gesundheitsbehörden in 4 europäischen Ländern haben inzwischen unabhängig voneinander festgestellt, dass es keine Belege für einen tatsächlichen Benefit des Einsatzes von GnRH-Analoga bei Genderdysphorie-Patienten gibt."

Ethisch hochproblematisch sei über die Folge- und Nebenwirkungen hinaus, dass Pubertätsblocker ein eventuelles homosexuelles Coming-out verhinderten.

Florian Zepf (Jena)

Florian Zepf (Klinikdirektor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Jena) äußert sich ebenfalls zur ausgesprochen dürftigen Evidenzlage, die den Nutzen und die Reversibilität von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen zweifelhaft erscheinen lassen. Auch erschwere sie das Einverständnis bei Eltern und vulnerablen minderjährigen Jugendlichen, die sich in einer belastenden Lebenskrise befinden.

Georg Romer (Münster)

Georg Romer (Klinikdirektor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Universitätsklinikum Münster) hält Abwarten ohne Pubertätsblocker für „oft unverantwortlich" und vermittelt den Eindruck, dass eine „gesicherte Diagnose" möglich ist und die individuelle und sorgfältige Abwägung Detransition nahezu ausschließen und das Suizidrisiko vermindern könnten. Die aktuelle Positionierung des NHS England sei in der britischen Fachwelt umstritten, habe keine Geltung für die anderen Länder Großbritanniens und liefere ebenso auch keinen bedeutsamen Erkenntnisgewinn für das Best Practice in Deutschland.

Genderdysphorie: Mehr Zurückhaltung bei der Therapie von Kindern, Dt. Ärzteblatt, 09.10.2023

Debatte um Transitionstherapie, Dt. Ärzteblatt. M. Lenzen-Schulte, 20.10.2023