Affirmation oder Exploration – eine ethische Frage

In vielen westlichen Ländern, so auch in Deutschland treffen Jugendliche und junge Erwachsene, die wegen Genderdysphorie eine/n ExpertIn aufsuchen, in der Regel auf Affirmation. Das heißt, ihre Selbstdiagnose wird bestätigt, für eine ‚medizinische Lösung‘ reicht aus, dass die Genderdysphorie vorhanden ist.

Flankiert wird die Affirmation i. d. R. von der Annahme, dass die Gender-Identität biologisch ist, d. h.„born-that-way” bzw. „Schicksal” ist und sich nicht mehr ändert, wofür allerdings hinreichende wissenschaftliche Belege fehlen*). Affirmative Fachleute behandeln Genderdysphorie in der Regel als Ursache und nicht als Symptom für Probleme in der Adoleszenz. Psychische Begleiterkrankungen werden im Zusammenhang mit der Genderdysphorie als sekundär bewertet. Um Körper und Gefühl in Einklang zu bringen und damit den Leidensdruck möglichst schnell zu verringern, werden bereits Jugendliche und junge Erwachsene mit drastischen und riskanten medizinischen Maßnahmen ‚genderbestätigend versorgt‘. Ihnen und ihren Eltern wird häufig - in ungerechtfertigter und fahrlässiger Weise - vermittelt, dass die Alternative zur medizinischen Transition möglicherweise Suizid sein könnte. Die Übertreibung der Suizidgefahr entschärft dann auch die Diskussion über Risiken von Hormonen und Operationen.

Zur „Gender Affirmative Therapie (GAT)” gehören:

  • Soziale Transition (Namen- und Pronomenänderung, Änderung von Aussehen, Haare, Kleidung, Verhalten etc.)
  • Medizinische Transition (Pubertätsblocker, gegengeschlechtliche Hormone und ggf. körpermodifizierende Operationen).

Psychotherapie hat bei der GAT standardmäßig nur begleitende Funktion, sie ist eine Art Case-Management, die die Betroffenen schnell zu den med. Maßnahmen weiter routet und dabei coacht. Genderdysphorie ist damit eine absolute Ausnahme unter verwandten Pubertätsproblemen von Adoleszenten. Bei Anorexia nervosa beispielsweise würden Fachleute niemals bestätigen, dass das Gefühl zu dick zu sein, Realität ist und eine medizinische Behandlung mit Schilddrüsenhormonen oder Fettabsaugen etc. einleiten.

Affirmation spielt auch im hypothetischen Fall PHOENIX, in dem es vor allem um Pubertätsblocker geht, eine Hauptrolle.

Forever young? The ethics of ongoing puberty suppression for non-binary adults, L. Notini, 24.05.2020

Was ist die Alternative?

Alternativ gehen beispielsweise tiefenanalytisch orientierte Psy­cho­log­In­nen / Psy­chia­ter­Innen neutral und eher rational vor. Sie versuchen genderdysphorischen Personen dabei zu helfen, sich ganzheitlich zu erforschen, um zu verstehen, wie es zum Gefühl der Genderdysphorie gekommen ist und welche Bedeutung das aktuell für sie hat.

Explorativ orientierte Fachleute gehen nicht von der Born-That-Way-Hypothese aus, sondern lassen offen, ob das Unwohlsein, das sich in Genderdysphorie äußert, ggf. auch entwicklungspsychologische Bezüge hat, Komorbiditäten eine Rolle spielen oder die Pubertät selbst die Ursache ist. In einem Peer-Review zum „Fall PHOENIX” (s. o.) konkretisiert Roberto D’Angelo, ein australischer Psychiater,  dieses Vorgehen. Seine grundlegenden Fragen sind:

  • Wer bin ich?
  • Wie bin ich hierher gekommen?
  • Wie bin ich in mein eigenes Leiden verwickelt?
  • Wie kann ich wachsen und gedeihen und mich wirklich auf mein Leben einlassen?

The answers to these questions emerge from a detailed exploration of the persons lived relational history, their current social and relational context and the political systems within which they are embedded. It is via this expansion of self-awareness that individuals can access agency and true freedom of choice.

D’Angelo formuliert auch Fragen dazu, wie und wann Phoenix sich neu identifiziert hat und was diese Identifikation genau bedeutet:

  • Wie kam es, dass Phoenix sich durch die Möglichkeit, einen erwachsenen, geschlechtlichen Körper zu haben, bedrängt fühlte und was bedeutet Sexualität für Phoenix?
  • Welche Einflüsse haben Phoenix' Vorstellungen von Gender geprägt: die Familie, Gleichaltrige, die Kultur, die sozialen Medien? Fühlt sich Phoenix durch die engen Definitionen dessen, was es bedeutet, männlich oder weiblich zu sein, oder durch die Art und Weise, wie Gender gesellschaftspolitisch geregelt wird, eingeengt?
  • Welche Möglichkeiten eröffnen sich ihm als nicht-binäre Person, die er als geschlechtlich gebundener Erwachsener nicht hätte, und warum?
  • Wie hängen Phoenix' erotisches Leben, Fantasien und die sexuelle Orientierung mit dem Wunsch zusammen, keine sekundären Geschlechtsmerkmale zu haben?

Diese Fragen sollen den Klienten helfen, sich selbst zu verstehen und ein besseres Leben führen zu können. Außerdem spielt die Beziehungs- und Entwicklungsgeschichte eine Rolle:

  • Wie funktioniert die Familie?
  • Welche Identifikationen mit den Eltern und wichtigen Bezugspersonen hat Phoenix entwickelt?
  • Gibt es eine Geschichte von Trauma oder Missbrauch?
  • Welche unbewussten Prozesse laufen in der Familie ab?
  • Will Mutter oder Vater nicht, dass Phoenix erwachsen wird?
  • Gibt es ein familiäres Problem, zu dessen Bewältigung Phoenix' Identifikation beiträgt?
  • Hat Phoenix zwischenmenschliche Schwierigkeiten und welche zwischenmenschliche Funktion hat die Behauptung einer nicht-binären Identität?
  • Ist es eine Möglichkeit, sich abzugrenzen und unabhängig zu sein, oder ist es eine Möglichkeit, sich zu verstecken und sich weniger verletzlich zu fühlen?
  • Sieht Phoenix eine nicht-binäre Identität als Lösung für einen emotionalen Schmerz, dessen Ursachen Phoenix vielleicht noch nicht erkannt hat?

The aim is not to identify psychopathology or to convert, but to explore the origins and meaning of Phoenix’s distress, and to facilitate a process of personal growth in which Phoenix will come to know themself and find new and creative ways to thrive

Who is Phoenix? R. D‘Angelo, 08.10.2020

Psychotherapie unterstützt die Autonomie

Gender-Probleme sind oft in komplizierte psychosoziale, familiäre und/oder entwicklungsbezogene Probleme eingebettet und sollten erkundet bzw. erforscht werden, bevor Entscheidungen über irreversible medizinische Maßnahmen fallen.

„Psychotherapy does not attempt to force change or impose any predetermined notion of ‘cure’ or preferred gender or sexual orientation on the patient. A core ethical principle of psychotherapy is that therapists must respect patient autonomy and self-determination and refrain from any attempt to influence the patient.”

Supporting autonomy in young people with gender dysphoria: psychotherapy is not conversion therapy, Roberto D'Angelo, 18.05.2023

DIE ethische Frage

Angesichts der riskanten somatischen Maßnahmen mit ihrer äußerst geringen Evidenzbasis in einer frühen Lebensphase. ist es vor allem eine ethische Frage, was die beste Hilfestellung für Jugendliche und junge Erwachsene sein kann, die sich in einer Lebenskrise befinden.

Wie ethisch ist die Fokussierung auf das Genderproblem und die invasive medizinische Symptombehandlung bei Aussparung der komplexen Beziehungen zum Individuum, zu seinem Kontext und seinem Umfeld? Ist eine umfassende Transition nicht eher der Versuch, die Entwicklungsgeschichte vergessen zu machen oder auszulöschen?

Sind die wichtigen Entscheidungen, die bei der Behandlung von genderdysphorischen Jugendlichen getroffen werden, nicht letztlich die Entscheidungen von Erwachsenen (der Ärzte und Eltern)? Bevor Minderjährige nicht ihren erwachsenen Körper entwickelt und sexuelle Erfahrungen gemacht haben, ist es kaum möglich, sich solche Dinge wie den Verlust der Fruchtbarkeit oder der sexuellen Lust vorzustellen.


*)Born-that-way - die umstrittene aber bequeme Annahme

Als Jack Turban, einer der führenden amerikanischen Pro-Trans-Psychiater, 2021 (versehentlich?) twitterte, Gender sei kein einfach fixes binäres Identitätskonstrukt, wurde er direkt gefragt: "Warum zum Teufel schneiden wir dann Kinder auf, Jack?". Turban löschte daraufhin sofort seinen Tweet.


Ethische und iatrogene Faktoren

Der Fall von Keira Bell, deren Behandlung und ihre Folgen gut dokumentiert sind, verdeutlicht die Kontraste zwischen einer genderbestätigenden Versorgung und einer umfassenden Versorgung.

George Halasz, seit über 40 Jahren Psychiater in Australien, schlüsselt die Erkenntnisse aus dem Fall Keira Bell und der unabhängigen Cass-Prüfung auf. Die bisherige Geschichte der Behandlung von jugendlicher Genderdysphorie wirft demnach vor allem 2 kritische Fragen auf:

  1. Ist der „Transitionsweg" - sozial, medizinisch oder chirurgisch - im besten Interesse des Kindes?
  2. Ist dieser Weg mit dem Grundsatz „Erstens, schade nicht" vereinbar?

Gender dysphoria: Reconsidering ethical and iatrogenic factors in clinical practice, G. Halasz, 09.11.2023


Links

Transition kann ein Kunstfehler sein - speziell bei Minderjährigen

Gender Exploratory Therapy

Leitfaden der Gender Exploratory Therapy Association