Informierte Einwilligung bei Genderdysphorie - es ist kompliziert
Die Behandlung der Genderdysphorie erfordert schwierige Entscheidungen von minderjährigen Betroffenen und ihren Eltern spätestens, wenn es um Pubertätsblocker, Cross-Sex-Hormone oder chirurgische Veränderungen geht. Für die Aufklärung und den Prozess zur Aufklärung und Einholung der Zustimmung der Beteiligten gibt es keinen etablierten Standard. Stephen B. Levine u. a. erörtern, was bei der üblichen gender-affirmativen Behandlung genderdysphorischer Teens & Twens so besonders problematisch ist und hinsichtlich „Informierter Einwilligung" überdacht werden sollte.
"Social transition, hormones, and surgeries are unproven in a strict scientific sense, and as such, to be ethical, require a thorough and fully informed consent process."
Reconsidering Informed Consent for Trans-Identified Children, Adolescents, and Young Adults, Levine u. a., 17.03.2022
Revisiting the Impossibility of Informed Consent for Transgender Interventions, Robbins, 19.07.2022
In jedem Fall sollte der Prozess zur informierten Einwilligung bezüglich einer somato-medizinischen Versorgung von GD-Teens und Twens folgende Aspekte enthalten:
- Die Entscheidung, eine Gendertransition einzuleiten, kann dazu führen, langfristig in der neuen Genderidentität zu verharren.
- Viele der körperlichen Veränderungen sind irreversibel.
- Es fehlen insbesondere sorgfältige Langzeitstudien, die überprüft hätten, ob diese Eingriffe eine bessere körperliche und geistige Gesundheit oder ein besseres soziales Funktionieren ermöglichen und welche Schäden sie verursachen.
- Informationen zu nicht-invasiven Alternativen wie Waitful Watching oder intensive Psychotherapie als Primärbehandlung
- Die Information, dass es keinen Test gibt, der vorhersagen kann, wer die neue Transgender-Identität lebenslang beibehalten wird und wer nicht.
Um informiert zustimmen zu können, müssen sich Eltern und betroffene Teens & Twens also sowohl mit den erhofften Vorteilen, als auch mit den bekannten und unbekannten Risiken, den Langzeitfolgen sowie alternativen Behandlungsmöglichkeiten auseinandersetzen.
Geringe Evidenz für die gender-affirmative Versorgung
Die medizinischen Interventionen für genderdysphorische Jugendliche sind als erste Behandlungslinie akzeptiert und weit verbreitet, obwohl sich die Versorgung lt. Levine u. a. eher durch Präzedenzfälle als durch wissenschaftliche Nachweise ihrer Wirksamkeit (d. h. Beseitigung der GD) etabliert hat.
“Despite the precedent of years of gender-affirmative care, the social, medical and surgical interventions are still based on very low-quality evidence.”
Annahmen
Levin u. a. diskutieren die am meisten verbreiteten Annahmen, die zur Legitimation von Transitionsmaßnahmen verwendet werden:
Annahme 1 - Transition schützt vor Suizid
Genderdysphorische Jugendliche sollten auf Selbstverletzungen und Suizidalität untersucht werden, ggf. müssen geeignete evidenzbasierte Suizidpräventionsmaßnahmen stattfinden. Die Suizidgefahr transidenter Jugendlicher wird häufig mit zahlreichen Fehlinformationen kommuniziert, was im Sinne von Suizidprävention unverantwortlich und ethisch falsch ist. Die Zahlen sind lange nicht so hoch, wie oft vermittelt wird, Suizid betrifft die wenigsten Teens und Twens mit GD, Suizidneigungen haben oft multifaktorielle Ursachen (wie Depression, Ängste, etc.) und sind nicht in erster Linie durch GD bedingt.
The “transition or suicide” narrative falsely implies that transition will prevent suicides. Clinicians working with trans-identified youth should be aware that although in the short-term, gender-affirmative interventions can lead to improvements in some measures of suicidality (Kaltiala et al., 2020), neither hormones nor surgeries have been showed to reduce suicidality in the long-term (Bränström & Pachankis, 2020a; 2020b).
Annahme 2 - Die niederländische Studie ist der Beweis
Die gender-affirmative medizinische Behandlung mit PB, CSH und Operationen (sog. Dutch-Protokoll) wurde zunächst in den Niederlanden erprobt und ab ca. 2007 international übernommen. Allerdings wurden die im niederländischen Protokoll gesetzten Kriterien und Altersgrenzen immer weiter ausgelegt, bzw. nicht mehr berücksichtigt bzw. eingehalten, die routinemäßigen Behandlungen fanden und finden fast immer ohne Überprüfungen und Bewertungen statt.
Die leitende Prüfärztin des niederländischen Protokolls, Anne deVries, hat die medizinische Fachwelt 2020 in einem in Pediatrics veröffentlichten Kommentar darauf hingewiesen, dass die positiven Ergebnisse der frühen medizinischer Interventionen in den Niederlanden nicht automatisch für ROGD-Jugendliche gelten, weil diese Kohorte zum einen nicht an den damaligen Evaluierungsstudien (mit bspw. überwiegend biologischen ♂) teilgenommen hat, zum anderen einige Besonderheiten aufweist und weil oft nicht alle Kriterien (z. B. Altersmindestgrenzen) des Dutch-Protokolls eingehalten werden.
Das Niederländische Protokoll schloss folgende Fälle explizit aus:
- Jugendliche, die sich vor der Pubertät nicht als cross-gender identifizierten
- Jugendliche, die erhebliche psychische Probleme haben sowie
- Jugendliche mit non-binären Identitäten
In der Niederländischen Studie lag das durchschnittliche Alter für den Beginn
- mit Pubertätsblockern bei ca. 15 Jahren. Mittlerweile wird die Altersgrenze im Tanner-II-Stadium gesehen, das ab 8-9 Jahren beginnen kann.
- mit Cross-Sex-Hormonen bei fast 17 Jahren, Derzeit werden CSH üblicherweise ab 14 Jahren verschrieben (s. auch WPATH-SoC8), manchmal sogar bereits früher.
"The fact that children are transitioned before their identity is tested against the biological reality and before natural resolution of gender dysphoria has had a chance to occur is a major deviation from the original Dutch protocol. (Levine, 2022)"
Levine u. a. nennen weitere Gründe, warum die Referenzierung der Niederländischen Vorgehensweise in der heutigen Situation problematisch ist und nicht automatisch Sicherheit und Wirksamkeit bei der invasiven Behandlung von genderdysphorischen Jugendlichen garantiert:
- Letztlich fand in den Niederlanden nur eine einzige Proof-of-Concept-Studie statt, von 196 überwiesenen Jugendlichen, wurden 70 Studienteilnehmende ausgewählt und nach der Pubertätsblockade untersucht. 55 Fälle wurden bis 1,5 Jahre nach der Operation dokumentiert, als sie ca. 21 Jahre alt waren. Mithilfe dieser Methode, stets mit dem Best-Case-Szenario fortzufahren, wurden die Fälle, die das positive Gesamtergebnis hätten beeinflussen können, nicht berücksichtigt!
- In den Niederlanden handelte es sich hauptsächlich um biologische Jungen, die sich seit früher Kindheit cross-gender identifizierten (d. h. kein Fall von non-binärer Identifikation), zudem waren zu Beginn der Studie 97 % sexuell gleichgeschlechtlich veranlagt. Heute hat sich der Case-Mix der Transitionierenden deutlich verändert, es sind überwiegend biologische Mädchen ohne Cross-gender-Identifikation vor der Pubertät, von denen sich etliche als non-binär identifizieren.
- Darüber äußern Levin u. a. noch weitere Kritik an der Vorgehensweise der niederländischen Experten.
- Außerhalb der Niederlande gab es in England eine weitere 2010 gestartete Studie zur Pubertätsblocker-Behandlung, die aber das positive Ergebnis der Niederländer nicht wiederholen konnte, weder die Genderdysphorie noch das psychologische Funktioniere konnten verbessert werden (Details zur Englischen Studie siehe Biggs 2022:
A recent attempt to replicate the results of the first Dutch study (de Vries et al., 2011) found no demonstrable psychological benefit from puberty blockade, but did find that the treatment adversely affected bone development (Carmichael et al., 2021).
Annahme 3 - Gender-Identität ist „born-that-way”
Die Ursachen für Genderinkongruenz konnten bisher wissenschaftlich nicht geklärt werden. Bei der Erforschung der Trans-Identifizierung von Jugendlichen gibt es Hinweise auf multifaktorielle Ursachen, u. a. könnten der Einfluss von Peers, verstärkte Isolation und starke Internetnutzung mitverantwortlich sein.
„Born-that-way” steht im Widerspruch zur steigenden Anzahl von Detransitionierten, deren Transidentifizierung offensichtlich vorübergehend war und die durch irreversible Eingriffe bzw. Verlust von Körperteilen und Fruchtbarkeit geschädigt wurden.
Bei Teens und Twens, deren Gender-Inkongruenz sich erst in der Pubertät bzw. Adoleszenz zeigt, ist die Born-that-way-Theorie eher unwahrscheinlich. Eine Bewertung bzw. Beurteilung/Diagnose ist daher umso wichtiger, ohne sie kann eine Einwilligung nicht als vollständig informiert gelten.
Weitere Annahme - die Reversibilität von Pubertätsblockern
Michael Biggs stellt noch weitere Annahmen infrage, z. B. Pubertätsblocker seien vollständig reversibel. Diese Annahme ist noch immer weit verbreitet und wurde auch vom Dutch Protocol stets gestützt. Diese Annahme hatte für Behandelnde den Vorteil, dass eine entsprechende Einwilligung nicht notwendig erscheint:
The postulate of reversibility, however implausible, helped to avoid the question of whether a child aged 12 (or below) could give consent to this endocrinological experiment.
The Dutch Protocol for Juvenile Transsexuals: Origins and Evidence, M. Biggs, 19.09.2022
Psychosoziale Risiken
Gerade die psychosozialen Auswirkungen von Transitionsmaßnahmen sind kaum untersucht und weitgehend unbekannt.
Von einem einzigen FzM-Teilnehmer aus der niederländischen Studie gibt es eine Fall-Beschreibung im Alter von 33 Jahren. Er bereute die Transition nicht, allerdings:
"He reported struggling with significant shame related to the appearance of his genitals and to his inability to sexually function; had problems maintaining long-term relationships; and experienced depressive symptoms (Cohen-Kettenis, u. a., 2011). Notably, these problems had not yet emerged when the same patient was assessed at the age of 20."
Bei Minderjährigen stellen sich automatisch die Fragen, wie sie als Transitionierte in dem Jahrzehnt zurechtkommen werden, in dem neue Entwicklungsaufgaben wie die berufliche Entwicklung, das Eingehen langfristiger intimer Beziehungen und Freundschaften oder die Gründung einer Familie in den Mittelpunkt treten.
Diese Fragen sind besonders relevant vor dem Hintergrund der lebenslangen Konsequenzen körpermedizinischer Maßnahmen. Erziehungsberechtigte werden sich mehr für diese Perspektive interessieren und sie besser einschätzen können als die betroffenen Teens&Twens, die oft an einer schnellen Lösung ihrer Probleme interessiert sind.
Soziale Transition
Die informierte Zustimmung zur sozialen Transition wird von Levin u. a. bezüglich der Notwendigkeit einer „Informierten Einwilligung”als „Grauzone” bezeichnet.
„Evidence suggests that social transition is associated with the persistence of gender dysphoria (Hembree et al., 2017; Steensma, McGuire, Kreukels, Beekman, & Cohen-Kettenis, 2013). This suggests that social gender transition is a form of a psychological intervention with potential lasting effects (Zucker, 2020")
It is possible that social transition will predispose a young person to persistence of transgender identity long-term. K. Zucker, 2020
Laut Levine u. a. ist die soziale Gendertransition eine psychologische Intervention mit potenziell dauerhaften Auswirkungen, die sie für eine ausdrückliche und nicht nur stillschweigende Zustimmung „qualifiziert”.
Was leistet Psychotherapie?
Im Rahmen der „Informierten Einwilligung” ist sicherlich auch die durch frühere Studien belegte hohe Rate der Abkehr zu kommunizieren bzw. die Möglichkeit der natürlichen Auflösung von Genderdysphorie wenn keine invasive Behandlung durchgeführt wird.
Ebenso ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass die bisherige Forschung zu alternativen Ansätzen wie Psychotherapie oder Watchful Waiting die gleichen wissenschaftlichen Einschränkungen aufweist wie die Forschung zu invasiveren Eingriffen.
E. Strittmatter und M. Holtmann haben 2020 die psychotherapeutischen und psychiatrischen Herausforderungen bei der Versorgung von genderdysphorischen Jugendlichen beschrieben - mit der Quintessenz:
„Die erhöhte Inanspruchnahme von Trans-Spezialambulanzen unterstreicht deutlich die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der geschlechtlichen Identität, den kulturspezifischen Geschlechtsrollenerwartungen und den pubertären Veränderungen als wichtige Aufgabe auch für unser Fach.”
Geschlechtsidentitäten im Wandel, E. Strittmatter, M. Holtmann, 12.03.2020
Der Prozess der Informierten Einwilligung kann durch folgende Faktoren beeinträchtigt sein: fehlerhafte fachliche Annahmen, schlechte Qualität der anfänglichen Bewertungen sowie ungenaue und unvollständige Informationen, die den Patienten und ihren Eltern mitgeteilt werden.
So beschreiben Strittmatter und Holtmann die Situation in Deutschland:
„Neben der fehlenden sicheren Vorhersagbarkeit erscheint es problematisch, dass unter Expertinnen und Experten keine einheitlichen Entscheidungskriterien vorhanden zu sein scheinen. Vielmehr differiert die Entscheidung, welche Behandlungsangebote geschlechtsdysphorische Jugendliche erhalten je nach aufgesuchter Spezialsprechstunde, nach subjektiver Einschätzung der Untersuchenden vom 'Passing' in der angestrebten Geschlechtsrolle und nach der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen, d. h., wie glaubwürdig und konsistent das innere Erleben geschildert werden kann.” (Fettmarkierung fehlt im Original)”
Informierte Einwilligung bei Minderjährigen - Eltern-Mitwirkung
Der Prozess der informierten Zustimmung, der mit einem unterzeichneten Dokument abschließt, bedeutet, dass Eltern und minderjähriges Kind über die kurz- und langfristigen Risiken, Vorteile und Unsicherheiten aufgeklärt wurden, die mit allen relevanten Phasen der genderbestätigenden Interventionen verbunden sind. Der Prozess muss die Familien auch über das gesamte Spektrum alternativer Behandlungen informieren, einschließlich der Möglichkeit, den Jugendlichen in seinem derzeitigen Zustand der Gender-/Körper-Dysphorie weder sozial noch medizinisch zu behandeln.
Einwilligungsfähigkeit Minderjährigkeit: Eltern Minderjähriger spielen bei der Informierten Einwilligung eine unentbehrliche Rolle, da Minderjährigen laut Levin u. a. die nötige Lebenserfahrung fehlt, um in tiefgreifende, lebensverändernde medizinische Eingriffe einzuwilligen.
We doubt, for example, whether even highly intelligent children who have not had sexual experiences can meaningfully comprehend the loss of future sexual function and reproductive abilities. (Levin u. a., 2022)
Die folgende Studie aus den Niederlanden vermittelt eindrücklich, wie problematisch es für alle Beteiligten (Jugendliche, Eltern und Ärzte) ist, die sog. medizinische Entscheidungskompetenz (hier für die Pubertätssupression) zu erlangen, festzustellen bzw. zu beurteilen. Einige Zitate aus der Studie
Informierte Einwilligung bei Twens - die besondere Herausforderung
Young people who have reached the age of majority, but who have not reached full maturation of the brain represent a unique challenge. It is well-recognized that brain remodeling proceeds through the third decade of life, with the prefrontal cortex responsible for executive function and impulse control the last to mature (Katz et al., 2016). The growing number of detransitioners who had been old enough to legally consent to transition, but who no longer felt they were transgender upon reaching their mid-20’s, raises additional concerns about this vulnerable age group (Littman, 2021; Vandenbussche, 2021).
Sind folgende Infos relevant für die „Informierte Einwilligung"?
Alle Informationen zu "Top-OP-Revisionen: Statistiken, Ursachen, Kosten und Tipps",
Die „Informierte Zustimmung" hängt stark von der Bewertung der Evidenzbasis ab
Die australische Psychiaterin Alison Clayton vergleicht 2 kürzlich veröffentlichte Empfehlungen zur informierten Zustimmung bei Genderdysphorie. Die eine Empfehlung ist die oben besprochene von Levine u. a. die sie vergleicht mit der derzeitigen Praxis der informierten Zustimmung für Jugendliche mit GD auf Basis der "Informed consent Standards of Care" der Australian Professional Association for Trans Health's (AusPATH, 2022).
Commentary on Levine et al.: A Tale of Two Informed Consent Processes, A. Clayton, 09.05.2022
Darüber hinaus stellt A. Clayton aufgrund der gut belegten Evidenzsschwäche die Frage, ob die genderaffirmative Behandlungen für Jugendliche nur im Rahmen klinischer Forschungsstudien zur Verfügung stehen und nicht als Routinebehandlungen durchgeführt werden.
Auch den bei Levine u. a. genannten alternativen Behandlungsmöglichkeiten, wie Psychotherapie, Familientherapie und Gruppentherapie fehlt es bislang an einer strengen Evidenzbasis. Der Unterschied ist allerdings, dass diese Behandlungen nicht-invasiv sind.
Auch der schottische Arzt Dr. Antony Latham, Spezialisit für Bioethik und Medizinrecht, diskutiert die Frage: