Warum haben immer mehr junge Menschen eine psychische Diagnose?
Die Zahl der psychischen und psychiatrischen Diagnosen bei jungen Menschen ist in den letzten Jahren teils angestiegen, teils weiterhin auf einem anhaltend hohen Niveau
In hessischen Krankenhäusern waren psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen 2024 bei jungen Menschen sogar der häufigste Grund für vollstationäre Aufenthalte
Es gibt wenig solide Antworten auf Fragen wie:
- Warum haben unsere Jugendlichen und jungen Erwachsenen so viele psychische Probleme?
- Warum kommen sie mit üblichen Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens schlecht zurecht?
- Werden die Diagnosen erstellt, um Verhaltensweisen zu erkennen und Betroffene zu entlasten, damit sie anschließend Behandlungen wie psychosoziale, psychologische oder medikamentöse Maßnahmen beginnen können, mit dem Ziel der Symptomlinderung oder der Überwindung von Problemen?
- Sind immer mehr junge Menschen psychisch beeinträchtigt, oder ist es auch hip geworden, sich per Diagnose über den sog. Nachteilsausgleich Vorteile in Schule, Berufsausbildung oder Studium zu verschaffen?
- Sind junge Menschen ohne Diagnose im Nachteil, weil sie nicht von Sonderbedingungen profitieren können?
In der letzten Zeit häufen sich allerdings Beiträge, die sich mit diesen Fragen beschäftigen.
Diagnose-Inflation?
Holger Richter, Psychologe, der 2024 das Buch Jenseits der Diagnosen veröffentlicht hat, gibt viele Denkanstöße:
"Bereits 2013 kritisierte der amerikanische Psychiater Allen Frances, der den Vorsitz der Arbeitsgruppe um das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM-IV) innehatte, die zunehmende Pathologisierung normaler menschlicher Verhaltensweisen und Gefühlszustände durch die moderne Psychiatrie. Er argumentierte, dass die Schwelle für psychiatrische Diagnosen immer weiter gesenkt werde, was zu einer massiven Überdiagnose und Überbehandlung und zugleich zu einer Unterversorgung der wirklich Kranken führe. Er wandte sich gegen zu weit gefasste diagnostische Kriterien im DSM-V."
„Seiner Ansicht nach würden normale Reaktionen auf Lebenskrisen und -übergänge wie Trauer, Schüchternheit, Zerstreutheit und andere menschliche Eigenheiten zunehmend als psychische Störungen fehlinterpretiert und wie eine medizinische Diagnose behandelt. Bereits 2011 startete er eine Petition gegen das DSM-V, in welcher er vor einer Hyperinflation psychischer Krankheiten nicht nur bei Kindern und Jugendlichen warnte."
Sicherlich ist zu begrüßen, dass sich die Sicht auf die Behandlung von psychischer Erkrankung von der Verwahrpsychiatrie und Ausgrenzung hin zur Psychologisierung und „sprechender Medizin“ mit all ihrer Zuwendung und Aufmerksamkeit gewandelt hat. Allerdings kann diese Aufmerksamkeit, das intensive Zuhören, auch eine verstärkende Wirkung auf das Krankheitsverhalten haben. Es kommt zur Selbstdiagnose, Überdiagnostizierung und verstärkter Medikalisierung. Vor allem wenn „das Besondere“ auch noch medial gefeiert wird oder besondere Entlastung und Vorteile verspricht.
Während „die Rate der schweren psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder bipolare Erkrankung in etwa gleich geblieben" ist, steigen andere deutlich an, exponentiell insbesondere die der Genderinkongruenz/-dysphorie.
Positiv ist, dass viele Menschen möglicherweise auch besser Hilfe finden können, statt Ängste, Traumata, Konflikte zu verstecken oder somatisch krank zu werden. Holger Richter stellt heraus, dass sich die Selbstmordrate in Deutschland von 1980 bis 2020 nahezu halbiert habe.
Psychische Diagnosen bieten keine wissenschaftliche Gewissheit
Stella O'Malley weist auf folgendes Problem hin:
„the reliability of many Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) categories is shaky at best, and anyone working in the field knows it. Whether the label is autism, ADHD or gender dys-phoria, these diagnoses are only approximations, built from clusters of symptoms, yet we continue to treat them as though they offer scientific certainty."
Das Hauptproblem dabei ist: Je mehr normale Notlagen pathologisiert werden, desto schwieriger wird es, diejenigen zu identifizieren, denen es wirklich schlecht geht.
Is the West normalising mental health overdiagnosis? Stella O'Malley, 05.12.2025
What Went Wrong With Therapy – My conversation with Abigail Shrier, 04.12.2025
Gesundheitsminister Englands ordnet Untersuchung an
Wes Streeting, Gesundheitsminister in England, hat eine Untersuchung veranlasst, die herausfinden soll, ob der Anstieg bei psychischen Diagnosen, speziell ADHS, durch „Überdiagnosen“ erklärbar ist. Er ist beunruhigt durch den Anstieg der Sozialausgaben wegen psychischer Diagnosen, ADHS und Autismus, aber auch vom Anstieg der Rate psychischer Erkrankungen bei Erwachsenen. Diese stieg von 15,5 % im Jahr 2994 auf 22,6 % im Jahr 2024.
Es soll eruiert werden, ob „gängige menschliche Emotionen 'überpathologisiert' werden bzw. gewöhnliche Notlagen als Krankheit:
“We must look at this through a strictly clinical lens to get an evidence-based understanding of what we know, what we don’t know, and what these patterns tell us about our mental health system, autism and ADHD services. That’s the only way we can ensure everyone gets timely access to accurate diagnosis and effective support.”
Das Expertengremium wird auch untersuchen, ob soziale Medien, Smartphones und Lebenshaltungsbedingungen zur Zunahme psychischer Notlagen beitragen.
Nearly one in four adults has a common mental health condition such as depression or anxiety, the NHS says. Some 8.9 million people in England are on antidepressants, up from 6.9 million a decade ago. Streeting has said this is “cause for concern”. The number of 16 to 34-year-olds off work with long-term sickness because they have a mental health condition rose by 76 per cent between 2019 and 2024.
Da mehr als eine halbe Million Menschen derzeit auf den Wartelisten des NHS zur ADHS-Diagnostizierung stehen, ist ein weiterer Anstieg wahrscheinlich.
Wes Streeting orders inquiry into mental health ‘overdiagnosis’, The Times, Eleanor Hayward, 03.12.2025
Streeting orders review of ‘overdiagnosis’ of mental illness and ADHD, msn, 03.12.2025
The Atlantic
Der Bericht schildert, dass verschiedene Universitäten Probleme haben, dem Anspruch der Studierenden aus Sonderregelungen, gerecht zu werden. Es geht um Nachteilsausgleichsregelungen wie
- zusätzliche Zeiten bei Prüfungen
- ablenkungsfreie Umgebung
- Nutzung von ansonsten verbotenen Technologien
- Zeitliche Verlängerung für Hausarbeiten
- Erhöhte Anzahl an Wiederholungsprüfungen
- höhere Toleranz von Fehlzeiten
- Einzelzimmer
- Erlaubnis Haustiere mitzubringen
Diese Sonderregelungen sollen Studierenden mit Behinderungen, insbesondere ADHS, Angstzuständen und Depressionen helfen, die gleichen Chancen wie Studierende ohne diese Einschränkungen zu haben. Der Nachteilsausgleich wird nicht auf Zeugnissen dokumentiert.
Die Zahlen an einigen ausgewählten Universitäten zeigen den Anstieg der letzten Jahren:
„At the University of Chicago, the number has more than tripled over the past eight years; at UC Berkeley, it has nearly quintupled over the past 15 years."
An der Brown University und der Harvard University sind mehr als 20 % der Studierenden als behindert registriert. In Amherst liegt dieser Anteil bei 34 %. An der Univerität von Chicago hat sich die Zahl in den letzten 8 Jahren verdreifacht, an der UC Berkeley in den letzten 15 Jahren fast verfünffacht.
Diese Veränderungen sind an den renommiertesten und teuersten Universitäten überproportional stark.
„In other words, also have the largest share of students with a disability that could prevent them from succeeding academically.“
Studierende mit Behinderungen seien nicht die Kids im Rollstuhl, sondern Kinder reicher Eltern, die zusätzliche Zeit für Tests bekommen, behauptet ein Professor einer Eliteuni, der anonym bleiben will.
Mittlerweile sind die Anforderungen für Sonderregelungen gesunken. Ein ärztliches Attest für ADHS reicht aus. Zudem ist es einfacher geworden, ein solches zu bekommen.
„In 2013, the American Psychiatric Association expanded the definition of ADHD. Previously, the threshold for diagnosis had been “clear evidence of clinically significant impairment.” After the release of the DSM 5, the symptoms needed only to “interfere with, or reduce the quality” of, academic functioning."
Es gibt viele Spekulationen darüber, ob die Sonderregelungen missbraucht werden. Nachweisbar ist beispielsweise, dass beim Zulassungstest an Hochschulen diejenigen, die zusätzliche Zeit erhalten, im Durchschnitt die höhere Punktzahl erreichen. Es gäbe insgesamt Anreize für StudentInnen so viele Sonderregelungen wie möglich in Anspruch zu nehmen. Ein Professor behauptet:
“It’s almost like it’s part of their identity, By the time we see them, they’re convinced they have a neurodevelopmental disorder.”
Und er befürchtet, dass das System die jungen Menschen geradezu dazu verleitet, sich selbst als weniger fähig zu sehen, als sie tatsächlich sind, weil sie alle möglichen Schwierigkeiten auf eine Beeinträchtigung zurückführen und normale Herausforderungen pathologisieren.
Es wird bereits über ein Szenario diskutiert, falls der Anteil von Studierenden mit Sonderregelungen die 50 % Marke übersteigen sollte.
„Already, at one law school, 45 % of students receive academic accommodations." Paul Graham Fisher, a Stanford professor who served as co-chair of the university’s disability task force, told me, “I have had conversations with people in the Stanford administration. They’ve talked about at what point can we say no? What if it hits 50 or 60 %? At what point do you just say 'We can’t do this’?'This year, 38 % of Stanford undergraduates are registered as having a disability; in the fall quarter, 24 % of undergraduates were receiving academic or housing accommodations."
Es steht die Frage der Gerechtigkeit im Raum, wenn gerade die privilegiertesten StudentInnen ihren Vorteil durch Sonderregelungen ausbauen. Aus Sicht von TTSB stellt sich zudem die Frage, ob bestimmte Bedingungen nicht für alle Studierenden bzw. Schüler geändert werden sollten, wie ablenkungsarme Räume, genügend Zeit zur Bearbeitung von Prüfungsaufgaben, auf Wunsch Einzelzimmer in Wohnheimen, eine höhere Anzahl der Wiederholungsmöglichkeiten etc.
Accommodation Nation – America’s colleges have an extra-time-on-tests problem, theatlantic by Rose Horowitch, 02.12.2025
Die Selbstdiagnosen
In einem aktuellen Beitrag der NZZ wird sind auch die typischen Selbstdiagnosen junger Erwachsener ein Thema:
„Die beiden seien fixiert auf ihre Gebrechen und kultivierten ihre sozialen Ängste. Bei Alex wurden auch Depressionen und ADHS diagnostiziert, sie nimmt Antidepressiva, geht in Therapie. Alex glaubt, auch auf dem Autismus-Spektrum zu sein und am Tourette-Syndrom zu leiden, das sich in körperlichen und sprachlichen Tics äussert."
Die verlorenen Töchter – wenn Eltern die Transidentität ihres Kindes anzweifeln, NZZ, B. Schmidt, 16.12.2025
Ist ADHS eine „Mode-Diagnose"?
Holger Richter, langjähriger Psychotherapeut, Dozent und Supervisor, Buch Jenseits der Diagnosen, über ADHS-Diagnosen, die immer häufiger gestellt wird.
„Früher war es der Zappelphilipp, ein unruhiger Junge. Nun wird die Kohorte ausgeweitet und es sind auch die Träumer(innen) von dieser Krankheit betroffen. ADHS könne hinter allem stecken, versichern mir ADHS-Experten, ebenso wie Traumaexperten mir versichern, dass es eine psychische Erkrankung nur geben kann, wenn etwas Schwerwiegendes auf die Seele eingewirkt hat.“
„ADHS gibt es – bei einer Minderheit von Kindern, vor allem Jungen – und man kann es als Erwachsener erzeugen, indem man Drogen nimmt, zu viele Reize setzt, nicht lernt, den Tag zu strukturieren, Belohnungsaufschub ein Fremdwort in der Erziehung ist, man nichts verpassen will und gottgleich denkt, man habe keine Grenzen, weniger schläft und sich wundert, dass alles so unkonzentriert ist. Doch … dann kommt diese Diagnose als erleichternde Erklärung und Metamphetamin, das euphorisiert und klarer macht. Sich infrage stellen muss man nicht mehr."
Statt den Eltern eine Erziehungsberatung zu empfehlen, erhält das Kind oft relativ schnell Medikamente, um ruhiger zu werden. Medikamente, bei denen einige Fachleute, die sich mit dem Gehirn und Pharmazie auskennen, nicht ausschließen können, dass sie auf lange Sicht Schäden im Gehirn verursachen.
Therapiemöglichkeiten
Für junge Erwachsene mit ADHS oder anderen Persönlichkeitsstörungen, die Schwierigkeiten bei der Berufsfindung oder -ausübung bestehen, existieren vielversprechende Therapieansätze. Beispielsweise bietet das Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim dazu ein umfangreiches, flexibles Behandlungsprogramm im Rahmen seines Adoleszentenzentrums an.
Dr. Frank Enning, leitender Oberarzt im ZI Mannheim, erläutert das Therapiekonzept in einem Video
Mehr …
AD(H)S: Deutlicher Anstieg der Neudiagnosen bei Erwachsenen, Dt. Ärzteblatt, 12.12.2025
Was ist eine Überdiagnose? gesundheitsinformationen.de








