Keine medizinische Transition für Minderjährige in 2 US-Bundesstaaten

Das U.S. Court of Appeals (6th Circuit) hat am 28.09.2023 eine Entscheidung eines Gerichts auf Bundes­staaten­ebene gekippt und somit dürfen Tennessee und Kentucky Pubertätsblocker, Hormone und geschlechts­anglei­chende Operationen für Minderjährige per Gesetz verbieten.

Das Gericht geht in seiner (Mehrheits-) Entscheidung davon aus, dass medizinische gender-affirmative Behandlungen nicht ausreichend bewiesen sind und Kindern langfristig schaden.

Das Gericht hatte 2 Fragen in Bezug auf die amerikanische Verfassung zu klären:

  1. Dürfen Elternrechte eingeschränkt werden, indem der Staat die geschlechts­an­glei­chende medizinische Versorgung von Minderjährigen untersagt?
  2. Besteht bei Transgenderpersonen die Gefahr der verfassungswidrigen Diskriminierung?

Gericht zu Frage 1: Ja. Der (amerikanische) Staat darf Elternrechte beschneiden, zum Schutz von Kindern.

Gericht zu Frage 2: Nein. Transpersonen stellen keine diskriminierte, politisch machtlose Klasse dar, da selbst der Präsident der USA die Kläger unterstützt. Folglich sind Transpersonen auch keine besonderen Rechte zu gewähren bzw. genießen keinen besonderen Schutz.

“Not a politically powerless group. Concerns about a 'political[ly] powerless[]' group and a dysfunctional political process also do not supply a reason for heightened review. Rodriguez, 411 U.S. at 28.
Whatever may have been true in the past about our society’s treatment of individuals with gender dysphoria, some of it surely lamentable, it is difficult to maintain that the democratic process remains broken on this issue today. The President of the United States and the Department of Justice support the plaintiffs.” (6th Circuit Appeals Decision, Nos. 23-5600/5609, p. 34)

Differenzierte Auseinandersetzung mit der Evidenzfrage

Bemerkenswert an diesem Urteil ist, wie intensiv sich das Gericht mit der Entwicklung der Behandlungsmethoden von gender-dysphorischen Kindern und Jugendlichen beschäftigt und kritisch den aktuellen Stand der Wissenschaft prüft. Letztendlich kommt das Gericht zu der Erkenntnis, dass es eine zu geringe Evidenz für die Wirksamkeit von medizinischen Maßnahmen bei Minderjährigen wie Pubertätsblockern, Hormonen und Operationen gibt.

Auszüge aus dem Urteil 

Im Urteil werden an verschiedenen Stellen der 83 Seiten umfassenden (Mehrheits-)Begründung, die Richtlinien von WPATH (World Professional Association for Transgender Health) und der Endrocrine Society zitiert. Die Zitate werden als Argument für ein Verbot von geschlechts­an­glei­chenden Behandlungen an Minderjährigen herangezogen, z. B.:

  • Hinweis Endocrine Society, dass sich Pubertätsblocker negativ auf die Knochenmineralisierung, Fertilität und die Entwicklung des Gehirns auswirken können.
  • Hinweis WPATH, dass Hormontherapie die Fertilität beeinträchtigen kann und der Verweis, dass „große Wissenslücken“ in diesem Bereich vorliegen.

“The Endocrine Society’s guidelines recognize that puberty blockers can cause 'adverse effects on bone mineralization' and 'compromised fertility,' along with 'unknown effects on brain development.' Endocrine Society Clinical Practice Guideline, supra, at 3882.
The World Professional Association for Transgender Health likewise cautions that hormone therapy can impair fertility, and it notes the 'major gaps in knowledge' in this area. 2022 WPATH Guidelines, supra, at S103, S118.” (6th Circuit Appeals Decision, Nos. 23-5600/5609, p. 37)

Der vorsitzende Richter, Jeffrey Sutton, schreibt, dass die langfristigen Konsequenzen nicht vorhersehbar sind, wenn die Behandlungen - neuerdings nach WPATH - ohne Altersgrenzen für Kinder zugelassen werden.

"This is a relatively new diagnosis with ever-shifting approaches to care over the last decade or two. Under these circumstances, it is difficult for anyone to be sure about predicting the long-term consequences of abandoning age limits of any sort for these treatments.” (6th Circuit Appeals Decision, Nos. 23-5600/5609, p. 40)

Weiterhin bemerkt das Gericht, dass in der Vergangenheit die Behandlung von transidentifizierten Jugendlichen einem steten Wandel unterworfen war. Es wird ausgeführt, wie WPATH die Standards immer weiter verwässert und gelockert hat.

In diesem Zusammenhang erwähnt das Urteil die Entscheidung von WPATH aus dem Jahr 1998, nach dem „Dutch Protocol“ zu behandeln.  Das Gericht führt weiterhin aus, dass aktuell einige Länder in Europa, wo diese Behandlungen „erfunden“ wurden, jetzt davon abweichen.

“It has been about a decade since the World Professional Association for Transgender Health, the key medical organization relied upon by the plaintiffs, first said that hormone treatments could be used by all adolescents, no matter how young. And some of the same European countries that pioneered these treatments now express caution about them and have pulled back on their use. How in this setting can one maintain that long-term studies support their use“ (6th Circuit Appeals Decision, Nos. 23-5600/5609, p. 19/20)

Das Gericht analysiert die Verwendung von „Off-Label“ Behandlungen. Die für den Schutz der öffentlichen Gesundheit zuständige Behörde in den USA, die FDA (Food and Drug Administration) hat nie die Verwendung von Pubertätsblockern zur Verhinderung der natürlichen Pubertät auf Wirksamkeit und Sicherheit geprüft.

It is difficult to maintain that the medical community is of one mind about the use of these hormones for gender dysphoria when the FDA is not prepared to put its credibility and testing protocols behind the use.“ (6th Circuit Appeals Decision, Nos. 23-5600/5609, p. 21)

Appeals court upholds Tennessee, Kentucky bans on transgender care for minors, Reuters, 29.09.2023


Weitere Gerichtsverfahren

In 3 weiteren Verfahren vor Federal Appeals Courts geht es z. B. darum, ob Schulen ohne Wissen der Eltern, Schüler mit gewünschten Pronomen und Namen ansprechen dürfen. Hier stellt sich die Frage, ob Kinderrechte oder Elternrechte stärker zu bewerten sind. Die Entscheidungen stehen noch aus, aber POLITICO schätzt, dass die konservativen „Werte" wahrscheinlich gewinnen werden.

He, She, They: The Pronoun Debate Will Likely Land at the Supreme Court, POLITICO, 01.10.2023