Richtlinie für geschlechtsangleichende Maßnahmen

Vorab: Was unterscheidet Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen?  

yes no 2167843 by GerdAltmann pixabay Im August 2020 wurde die Richtlinie „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus“ des GKV-Spitzen­ver­ban­des neu herausgegeben. Sie ist für die Medizinischen Dienste der Krankenkassen und deren Verbände verbindlich. Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung verlangen die Krankenkassen auch zukünftig eine umfassende Diagnose (Transsexualismus ICD-10, F64.0 einschl. Ausschluss von Komorbidität, körperliche Untersuchung, Labor, etc.), Gutachten und Alltagserfahrungen.

FAQ zur Begutachtung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen bei Transsexualismus, md-bund, 25.07.2022  

In den FAQ wird z. B. begründet, warum vorläufig weiter nach ICD-10 begutachtet wird, was die Grundlagen für die Begutachtung sind, wie begutachtet wird und warum außer F.64 keine anderen Geschlechtsidentitätsinkongruenzen wie z.B. non-binär begutachtet werden.

In der Richtlinie wird Bezug genommen auf die AWMF-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung (2018) für Erwachsene. „Gegenstand dieser Begutachtungsanleitung ist nicht die Begutachtung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen."

"Aufgrund der in der S3-Leitlinie aus 2018 zur Diagnostik und Behandlung von Genderdysphorie (S3-LL) dargestellten Evidenzlage wurden die aus den Behandlungsstandards von 1997 übernommenen Zeitregeln hinsichtlich Psychotherapie, Hormontherapie und Alltagserfahrungen in der aktualisierten Fassung der BGA modifiziert. Die aktuellen Behandlungsleitlinien und -empfehlungen (S3-Leitlinie 2018; Standards of Care, SoC 2012) betonen auf Basis der untersuchten Evidenzlage die Wichtigkeit und Notwendigkeit von psychotherapeutischer Begleitung und Alltagserfahrungen im Rahmen des gesamten Transitionsprozesses. Zu berücksichtigen ist, dass die in der S3-LL 2018 zusammengetragenen wissenschaftlichen Belege in qualitativer Hinsicht auf niedrigem Evidenzniveau beruhen (Kohortenstudien und vorwiegend Expertenkonsens)."

Die AWMF-S3-Leitlinie lehnt die Alltagserfahrungen nicht grundsätzlich ab, sieht sie aber als nicht mehr zwingend notwendig an:

„Alltagserfahrungen mit dem Wechsel von der bisherigen Geschlechtsrolle in eine andere stellen keine notwendige Voraussetzung für den Beginn körpermodifizierender Behandlungen zur Unterstützung einer Transition dar. Konsensbasierte Empfehlung; Konsensstärke: Starker Konsens"

Dagegen definieren die neuen Begutachtungsrichtlinien der GKV weiterhin Alltagserfahrungen als Erfordernis:

"Aus sozialmedizinischer Sicht wird daher vor geschlechtsangleichenden Maßnahmen i.d.R. eine therapeutisch begleitete Alltagserfahrung in der angestrebten Geschlechtsrolle kontinuierlich und in allen Lebensbereichen über einen ausreichend langen Zeitraum als erforderlich angesehen."

 Zum Geltungsbereich wird ein BSG-Urteil von 2009 zitiert:

Grundsätzlich bestimmen nämlich nicht Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften den Umfang der Leistungsansprüche der Versicherten der GKV. Das Leistungsrecht ist vielmehr insbesondere von den Vorgaben des § 2 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 12 SGB V geprägt, wonach Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen müssen.“ (B1 KR 5/09 R). - Markierungen fehlen im Original."

Leidensdruck

Dass die Kassen überhaupt zahlen müssen, hängt vom Krankheitsbegriff ab. Bei GenderDysphorie/Trans* wird vor allem dem LEIDENSDRUCK ein Krankheitswert bescheinigt. Der Leidensdruck stellt in den neuen Richtlinien das entscheidende Kriterium dar, entsprechend ist dem Leidensdruck ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 17)

"Vor dem Hintergrund der ständigen Rechtssprechung des BSG kommt der Einschätzung des krankheitswertigen Leidensdrucks bei Transsexualismus als Voraussetzung einer Leistungspflicht der GKV für geschlechtsangleichende Maßnahmen eine zentrale Bedeutung zu. Das BSG hat sich dabei inhaltlich nicht genauer zur Definition des Leidensdruckes bei Transsexualismus geäußert. Auch in der S3-LL 2018 wird der Begriff Leidensdruck nicht näher operationalisiert. Dort wird aber auch die Wichtigkeit, den vorhandenen Leidensdruck einzuschätzen, betont. (Markierungen fehlen im Original)"

Letztlich bleibt problematisch, dass der Leidensdruck ein äußerst SUBJEKTIVES Kriterium ist. Selbstbeurteilungsfragebögen sollen den Leidensdruck quantifizieren helfen.

S. 11: "Operative Eingriffe am – krankenversicherungsrechtlich betrachtet – gesunden Körper zur Beeinflussung psychischer Leiden kommen nur im Falle einer besonders tiefgreifenden Form der Transsexualismus zulasten der GKV in Betracht, sofern andere Maßnahmen zur Linderung/Beseitigung des krankheitswertigen Leidensdruckes ausgeschöpft wurden. (Markierungen fehlen im Original) "

D I E Ausnahme

Im Kapitel Kriterien und Maßstäbe zur Begutachtung wird auf ein BSG-Urteil von 2012 referenziert (S. 30):

„Obwohl der Anspruch auf Krankenbehandlung psychischer Krankheiten grundsätzlich nicht körperliche Eingriffe in intakte Organsysteme erfasst, können zur notwendigen Krankenbehandlung des Transsexualismus – als Ausnahme von diesem Grundsatz – operative Eingriffe in den gesunden Körper zwecks Veränderung der äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gehören (…) Die genannten operativen Eingriffe in den gesunden Körper müssen medizinisch erforderlich sein (…).“

Das heißt, das insbesondere aufgrund von Gerichtsurteilen bei Genderdysphorie und Transsexualismus eine Ausnahme vom Grundsatz gemacht wird, dass keine med. Eingriffe an biologisch gesunden Körper mit irreversiblen Folgen vorgenommen werden.

Die Rolle der Psych*

An etlichen Stellen wird von „psychiatrischen und psychotherapeutischen Mitteln" gesprochen, die ausgeschöpft sein sollen, bevor Operationen genehmigt werden können. Dabei bleibt offen, welche Mittel bzw. Konzepte das genau sein sollen, insbesondere wenn Psychologen/Psychiater im Sinne von Begleitung und Coaching arbeiten. Die GKV muss demnach zahlen:

"Nur wenn psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen",

Auch werden „alternative Optionen" zu Operationen angesprochen, die berücksichtigt werden sollen, Seite 19.

"Es kann auch sein, dass sich Betroffene dafür entscheiden, eine körpermedizinische Transition nicht weiter zu verfolgen (vgl. Byne et al., 2012, S. 18; s. a. S3-LL). Hierauf wird auch in den SoC (2012) verwiesen, so sei es mit Hilfe von Psychotherapie möglich, dass es einigen Betroffenen gelinge, ihre trans- oder gegengeschlechtlichen Gefühle mit ihrem biologisches Geschlecht zu vereinbaren, so dass sie nicht das Bedürfnis hätten, ihren Körper zu feminisieren oder zu maskulinisieren."

Genannt werden hier die Förderung von Selbstakzeptanz, -wertgefühl, Selbstsicherheit, Identitätsentwicklung, Reflexion der Geschlechtsrolle, etc.

Als psychotherapeutische Mindestvoraussetzung für die beantragten Maßnahmen gelten neuerdings nur noch 12 Sitzungen à 50 Min. in einem psych. Setting über 6 Monate, bei genitalangleichenden Operationen über mind. 12 Monate (früher 18 Mon.) zur Diagnose und Behandlung des krankheitswertigen Leidensdrucks. Zudem muss für die Diagnose „Transsexualität“ die transsexuelle Identität mindestens 2 Jahre durchgehend bestanden haben.

Formelles Verfahren

Wie bisher bleibt es bei einem formalistischen Begutachtungsverfahren. Wenn die nachfolgenden 8 Fragen mit "ja" beantwortet werden können, wird genehmigt:

  1. Sind die Befunde und Berichte vollständig?
  2. Liegt die Diagnose Transsexualismus gem. ICD-10, F64.0 vor?
  3. Psychische Komorbiditäten wurden ausgeschlossen bzw. ausreichend stabilisiert
  4. Liegt ein krankheitswertiger Leidensdruck bei Transsexualismus vor?
  5. Psychiatrische und psychotherapeutische Mittel zur Behandlung des Leidensdrucks waren nicht ausreichend?
  6. Therapeutisch begleitete Alltagserfahrungen in der gewünschten Geschlechtsrolle wurden durchgeführt?
  7. Ist die psychiatrisch/psychotherapeutische Indikationsstellung für die beantragte Maßnahme sozialmedizinisch nachvollziehbar?
  8. Ist die somatisch-ärztliche Indikationsstellung für die beantragte Maßnahme nachvollziehbar und eine ärztliche Aufklärung erfolgt?

D.h. wenn alle Bedingungen formal erfüllt sind, dann wird nach Aktenlage genehmigt - keine Ethikkommission, kein persönlicher Kontakt. Die eigentliche Verantwortung und die Diagnose liegt vor allem bei den Psychologen/Psychiatern und deren Gutachten.

Somatisch-ärztliche Indikationsstellung

Zusätzlich zum psychologischen/psychiatrischen Gutachten ist ein somatisch-ärztliches Gutachten (z. B. von EndokrinologInnen, ChirurgInnen) notwendig. Es stellt sich allerdings die Frage, wann die genannte "somatisch-ärztliche Indikationsstellung" (Punkt 8) zum Tragen kommt. Bei Cross-Sex-Hormonen oder Brustamputation geht es um Eingriffe am bis dato gesunden Körper, welche somatisch-ärztliche Indikation kann es dazu geben? Vermutlich geht es genau darum, den Grad der körperlichen Gesundheitsverfassung zu dokumentieren, evtl. somatische Risikofaktoren auszuschließen.

Bei der Amputation von Gebärmutter/Eierstöcke ist dies offensichtlich eine andere Situation. Dazu heißt es auf S. 28: "Die Entfernung der Gebärmutter und der Eierstöcke ist auch aus medizinischen Gründen wegen des unphysiologischen Einflusses der gegengeschlechtlichen Hormonersatztherapie angezeigt." Viele Betroffene wissen nicht, dass Cross-Sex-Hormone nicht nur eine gewisse Krebsgefahr für die belassenen Sexualorgane sein können, sondern dass Probleme wie beispielsweise schmerzhafte Gebärmutter-Atrophie relativ wahrscheinlich sind und häufig deren Entfernung nach wenigen Jahren der Anwendung von Cross-Sex-Hormonen begründet.

Bezüglich Brust-Operationen bei Transfrauen wird eine Östrogentherapie über mindestens 2 Jahre vorausgesetzt.

Im Rahmen der somatisch-ärztlichen Indikation wird erwartet, dass die Antragstellenden von den ausführenden ÄrztInnen gut aufgeklärt wurden.

Hormontherapien

Interessant ist auch, dass alle Cross-Hormon-Verschreibungen als "Off-label" bezeichnet werden, s. S. 26.

Die MDK-LL enthalten mehrere informative Tabellen zu den Effekten und dem zeitlichen Verlauf der feminisierenden bzw. maskuliniserenden Hormontherapien auf S. 26-28.

  • Die meisten Effekte der körperlichen Umgestaltung setzen bei Transfrauen nach 3-6 Monaten ein und haben nach 2-5 Jahren den maximalen Effekt erreicht. Die Abnahme von sexuellem Verlangen und Erektionen tritt bereits nach 1-3 Monaten ein.
  • Bei Transmännern setzt die Regelblutung bereits nach 2-6 Monaten aus, die tiefe Stimme entwickelt sich zwischen 3-12 Monaten und hat nach 2 Jahren den maximalen Effekt erreicht. Andere körperliche Veränderungen durch die Cross-Sex-Hormone dauern zwischen 3-6 Monate (erwarteter Wirkungseintritt) und haben ihren maximalen Effekt zwischen 2 und 5 Jahren.

LETZTverantwortung

Laut dieser Begutachtungs-Richtlinie hat der/die Ärztin/Arzt, der/die die körpermedizinische Maßnahme durchführen soll, die "LETZTverantwortung" (S. 24). Wenn er/sie nicht von der Transsexualität des Antragstellenden überzeugt ist, kann/müsste sie/er die körpermedizinische Maßnahme canceln.

Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICS-10, F64.0) - Begutachtungsanleitung/Richtlinie des GKV-Spitzen­verbandes, 2020